Auszug aus Magisterarbeit (Note: sehr gut)

Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung 1


I Die Verselbständigung der Kultur als gemeinsames Grundmotiv der Kulturtheorien Simmels und Adornos 4
2 Die Verselbständigung als Tragödie der Kultur bei Simmel 9
2.1 Simmels Kulturbegriff .

Erstellt von Magistrat vor 8 Jahren
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2.1.1 Die Idee der Kultur, ihre Dualität und ihr Ideal . . . . . . . . . . 9
2.1.2 Kultur als Abweichung von ihrem Ideal . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.2 Die Tragödie der modernen Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
2.2.1 Die Verselbständigung der objektiven Kultur . . . . . . . . . . . . 19
2.2.2 Die Beschleunigung der Verselbständigung als Spezifik der modernen Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
2.3 Das Geld als zentrale Objektivation der modernen Kultur . . . . . . . . . 25
2.3.1 Die Idee des Geldes, seine Entstehung und Funktion . . . . . . . . 26
2.3.2 Die Realität des Geldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
2.3.3 Die Eigenlogik des Geldes und seine Wirkung . . . . . . . . . . . 33
2.4 Wie aus Mitteln Zwecke werden; das Geld als Endzweck . . . . . . . . . 37
2.4.1 Die Idee des Mittels und des Geldes als dessen reinster Ausdruck . 38
2.4.2 Die Realität des Geldes als Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
2.4.3 Das Geld als teleologischer Endzweck . . . . . . . . . . . . . . . . 46
3 Die Verselbständigung als Verdinglichung der Kultur bei Adorno 533.1 Kultur als Dialektik von Mythos und Aufklärung . . . . . . . . . . . . . 55
3.1.1 Der Begriff der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
3.1.2 Erste These: Schon der Mythos ist Aufklärung . . . . . . . . . . . 58
3.1.3 Zweite These: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück . . . . . . 60
3.2 Verdinglichung als Durchsetzung partikularer Vernunft . . . . . . . . . . 69
3.3 Die Rationalität aus dem Geist des Opfers, Tausch als Rationalisierungdes Opfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
3.3.1 Exkurs: Die Marxsche Werttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
3.3.2 Der Tausch als Säkularisierung des Opfers . . . . . . . . . . . . . 78


II Das unterschiedliche Zutrauen der Erhaltung der Individualität in der modernen Kultur bei Simmel und Adorno 83
4 Die Verselbständigung der subjektiven Kultur 83
4.1 Simmels Individualisierungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
4.1.1 Quantitative Individualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
4.1.2 Qualitative Individualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
4.2 Das individuelle Gesetz als Ausweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
5 Die Liquidierung des Subjekts 111
5.1 Der Begriff des Individuums und seine kritische Theorie bei Adorno . . . 113
5.2 Die Genese des bürgerlichen Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
5.2.1 Odysseus – antiker Prototyp des verhärteten bürgerlichen Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
5.2.2 Das bürgerliche Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
5.3 Die Liquidierung des Individuums im Spätkapitalismus . . . . . . . . . . 130
5.3.1 Der Spätkapitalismus als Gesellschaft der totalen Integration . . . 132
5.3.2 Das total integrierte Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139


III Diskussion 144
6 Intention, Vorannahmen, Motiv, Kritik und Theoriegrundlage 145
6.1 Exkurs: Adornos Vortrag über Simmels individuelle Kausalität . . . . . . 146
6.2 Kontemplative Wissenschaft und verändernde Praxis . . . . . . . . . . . 149
6.2.1 Die Dualität von Form und Inhalt und ihre Dialektik . . . . . . . 149
6.2.2 Die Funktion der Dialektik als Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . 153
6.2.3 Lebensphilosophische Formmetaphysik und dialektische Utopie . . 155
6.3 Zusammenfassung: Die unterschiedliche Begründung der Verselbständi-
gung als Ursache divergierender Strategien der Rettung des Individuums 161
7 Schluss 163
Literatur 165

Auszug
Teil II Das unterschiedliche Zutrauen derErhaltung der Individualität in der modernen Kultur bei Simmel und Adorno Ging es im ersten Teil dieser Arbeit darum, die Gemeinsamkeit der Zentralität des Phänomens der Verselbständigung in den Kulturtheorien von Simmel und Adorno auf-zuzeigen und ihre jeweilige Erklärung dafür zu eruieren, so soll es in diesem Teil um das Deutlichmachen der Differenzen der Individualisierungstheorien der beiden Autoren ge-hen. Insbesondere die verschiedenen Thesen der Chancen des Individuums in dieser ihm entfremdeten Kultur, die ja als je konsequentes Ergebnis, als Urteil der Theoriebemühun- gen zu verstehen ist, sollen hier das Thema bestimmen. Denn diese Thesen fallen trotz der gleichen Diagnose über das Wesen der modernen Kultur, ihre Verselbständigung, gegensätzlich aus. Bevor der Versuch einer Erklärung dieser Differenz unternommen werden kann, sollen an dieser Stelle beide Individualisierungstheorien dar- und damit gegenübergestellt werden, um das jeweilige Zutrauen des Autors in die Möglichkeit von Individualität in der modernen Kultur, die in der jeweiligen These über das Individuum kulminieren, nachvollziehbar zu machen. Die nachfolgenden Zusammenfassungen der Individualisierungstheorien Simmels und Adornos sollen nicht den Eindruck erwecken, dass sie neben den bereits vorangegangen Kulturtheorien stehen, denn sie sind fest mit ihnen verwoben. Sie stellen lediglich den zweiten analytischen Teil der Beziehung des Individuums zur Gesellschaft bzw. Kultur dar, in dem die Darstellung des Einflusses jener auf das Individuum ein stärkeres Gewicht erfährt. Es geht also zuvörderst darum, wie die kulturell entstandenen gesellschaftlichen Institutionen durch ihre Struktur dem Individuum in seiner Entwicklung eine erkennbare Form geben.


4 Die Verselbständigung der subjektiven Kultur In Kapitel 2.2.1, welches sich mit Verselbständigung der objektiven Kultur beschäftigte, klang an, was bisher zurückgestellt wurde, nämlich, dass beide, sowohl die objektive als auch die subjektive Kultur auseinandertreten, sich voneinander entfremden, aufgrund ihrer jeweiligen Eigengesetzlichkeit. Während diese Entwicklung für die objektive Kultur bereits nachgezeichnet und als Ursache der Tragödie der menschlichen Kultur überhaupt bestimmt wurde, blieb die Eigengesetzlichkeit der subjektiven Kultur unterbestimmt. Es schien, als kapriziere sich ihre gemeinsame Dialektik auf eine der objektiven Kultur schicksalhaften inhärenten Pathologie der Eigengesetzlichkeit, die der subjektiven Kultur den ihr selbst bereiteten Boden ihrer Höherentwicklung unter den Füßen zu entreißen drohe. Dieser Eindruck mag als vorläufiger so falsch nicht sein, schließlich scheint die subjektive Kultur dem wenig entgegenzusetzen zu haben. Simmel bescheinigt dem Individuum zwar einen wenig beeinflussbaren Kern, welcher in Form seiner Seele als Ausdruck des höchstentwickelten Lebens vorzustellen sei. Aber auch wenn, i. S. der Lebensphilosophie des späten Simmels, die Welt vom Lebensbegriff aus zu verstehen sei, so ist die Entwicklungshöhe der Eigengesetzlichkeit der subjektive Kultur, aufgrund ihrer zeitlichen Begrenztheit in der Form des individuellen Lebens, mit jener beschränkt. Für seine von ihm geschaffenen objektiven Gebilde ist diese Begrenztheit, aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit, weniger entscheidend, ihre Mächtigkeit dementsprechend potenziert. Und doch ist die subjektive Kultur in ihrer Einzelheit als seelisches Leben in Form des Individuums diesem Dilemma bei Simmel weder komplett hilflos ausgeliefert – auch wenn dessen Außenseite diese Entwicklung durch das Fachmenschentum, der funktionalen Beschränkung, den psychologischen Auswirkungen der Geldwirtschaft und den weiteren Forderungen seines Widerparts Rechnung tragen muss –, noch ist sie durch ihren inneren Lebenskern dagegen immun oder bleibt reaktionslos. Ihre Verselbständigungstendenz hat eher den Charakter der Unwägbarkeiten des Lebens an sich und der Reaktion auf Forderungen der objektiven Kultur an sie, um ihren inneren Kern vor allzu weitreichenden Eingriffen zu schützen und Kulturwerte für diesen nutzbar zu machen.
Die vormalig aktive Rolle der subjektiven Kultur bei der Errichtung der objektiven Kultur als Mittel ihrer Selbstentfaltung wandelte sich, mit deren zunehmenden Verkehrung zu Endzwecken in der Moderne, in eine nach außen hin passive. Die objektive Kultur erscheint ihr immer weniger steuerbar, deswegen scheint auch die Flucht in die Trutzburg der Innerlichkeit allemal zielführender für die Erhaltung des eigenen Lebensanspruchs,
der eigenen Individualität, zu sein.


Es soll kein falscher Eindruck entstehen, denn wie bereits Michael Landmann in seiner Einleitung zu Das individuelle Gesetz, Philosophische Exkurse anführt, (446) ist Simmel kein allgemeiner Defätismus der Kulturentwicklung zu unterstellen. Die Tragödie der Kultur ist bei ihm »lediglich« auf die Objektivierungen der Menschen bezogen. Verlieren diese irgendwann gänzlich ihren Sinn oder werden sie von einer Revolution hinweggefegt, kann sich die Kultur auch wieder in eine für den Einzelnen positiveren Richtung entwickeln – bis allerdings der Automatismus der Tragödie diese Intentionen, verwandelt in Institutionen, wieder ad absurdum führt. Innerhalb einer Lebensspanne allerdingssind solche Ereignisse rar. So kann die Affirmation der französischen Revolution bei Simmel, die Landmann anführt (447) , auch als Bedauern über den langen Zeitraum interpretiert werden, in dem es zu keiner neuen, ähnlichen Umwälzung, einer Erneuerung der Menschheit, kam. Auch Simmels Befürwortung der deutschen Kriegstreiberei vor dem 1. Weltkrieg mag in diesem Kontext gelesen werden können. Es scheint, als hätte er in einem kurzen, für ihn untypisch naiven Moment, selbst das Auswachsen der Mittel, in diesem Falle des überhaupt Irgendetwas-Passierens, zu Endzwecken selber begrüßt. (448)
Von der Verselbständigung der subjektiven Kultur soll aber erst der zweite Teil dieses Kapitels handeln. Im ersten soll die Individualisierungstheorie Simmels als zweiter analy-
tischer Teil des Verhältnisses von Individuum und Kultur mit Schwerpunkt auf ersterem kurz zusammengefasst werden. Die Kulturtheorie Simmels, inspiriert von seiner Lebensphilosophie, gibt hierbei den theoretischen Rahmen seiner verschiedenen Ansätze (449) ab.
Denn dort werden die anthropologischen Bestimmungen und die grundsätzliche Konstitution von Kultur, deren Institutionen das Individuum sozialisieren, theoretisch am weit- und tiefgreifendsten sowie am allgemeinsten erörtert. Da Simmels Kulturtheorie in Kapitel 2 bereits rekonstruiert, und damit die theoretische Vorleistung zur Konstitution des Individuums gelegt wurde, kann die Individualisierungstheorie selbst weniger umfangreich dargestellt werden, frühere und spätere Ansätze – weniger allgemeine, dafür aber meist spezifischere –, sollen in diesen kulturellen Theorierahmen integriert werden.


4.1 Simmels Individualisierungstheorie
Das Individuum ist bei Simmel ein Resultat von Wechselwirkungsprozessen. Um mit etwas wechselwirken zu können, muss es von diesem geschieden sein. Der Mensch, soSimmels anthropologische Bestimmung, kann und will sich nicht mit der Einheit seiner natürlichen Umgebung als Naturwesen abgeben, denn er ist Kulturwesen. Sein inne-
res Leben, seine Seele, strebt nach der Verwirklichung seines Potentials. Paradoxerweise
kann er dies nur durch etwas anderes erreichen, und zwar durch seine eigens dafür geschaffenen kulturellen Gebilde. Der Mensch ist also aufgrund dieses Strebens ein entäußerndes Tier, man könnte hinzufügen, ein aneignendes, höher strebendes Tier, welches mit seinen eigenen Externalisierungen wechselwirkt, und so seine Individualisierung und Sozialisierung realisiert. Aus diesem Differenzierungsprozess kommt zum Sein (und Werden) eine zweite maßgebliche Kategorie, nämlich der Wert. Mit der Unterscheidung von Subjekt und Objekt kommt das Begehren nach dem Objekt. Da dieses nicht mehr mit dem Subjekt naturgegeben in eins fällt, kostet seine Erlangung die Überwindung des Hindernisses, welches zwischen Subjekt und begehrendem Objekt steht. Dieses Opfer, möge es aus Anstrengung bzw. Arbeit bestehen oder aus Objekten im Tausch dafür, bedeutet, dass dem begehrten Objekt ein subjektiv empfundener Wert zukommt. Um die Hemmnisse, die zwischen Subjekt und dem begehrten Objekt stehen, zu überwinden, schafft der Mensch Mittel; mächtige Mittel sind Werkzeuge. Der Mensch ist also auch ein begehrendes Wesen, ein werkzeugmachendes und tauschendes Tier. (450) 4.1.1 Quantitative Individualisierung Diese grundlegende Kulturanthropologie verhält sich zu Simmels Gesamtwerk wie seine von Aristoteles übernommene Feststellung: »dass, was der Sache nach das Erste ist, für unsere Erkenntnis das Späteste ist.« (451) Denn die theoretische Grundlegung seines Werkes erfolgte in den letzten Schriften seines Lebens. Von dieser Perspektive aus kann man behaupten, in Über sociale Differenzierung, seiner ersten großen soziologischen Monographie, wird ein Teilaspekt dieser Gesamtkonzeption näher untersucht. In dieser Zeit, in der die Soziologie, wie Simmel meint, in ihrer Findungsphase war und nach ihrer Rechtfertigung, ihren Methoden und Regeln suchte, und er den noch vorherrschenden metaphysischen und psychologischen Erkenntnisweisen lediglich einen der Wissenschaft vorläufigen Ordnungsrahmen zusprach (452), schon in dieser Zeit und in diesem, seinem ersten Werk ist die Antizipation auf den erst viel später zustandegekommenen und jenen alten Erkenntnisweisen näherstehenden Gesamtzusammenhang zu spüren; auch wenn die Methode hier eine positivistische ist, in der der Anspruch nach Wissenschaftlichkeit, Tatsachengesättigtheit und somit Exaktheit durch einen quantifizierenden Zugang viel stärker ausgeprägt und umgesetzt ist. In den Gesamtzusammenhang der Differenzierung von Subjekt und Objekt, des Individuums vom Naturgeschehen, als Weg der Seele z sich selbst, von der »geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit« (453) ist hier der Fokus ein soziologischer, das Thema die soziale Differenzierung, das Ergebnis die Individualisierung als mögliche Antizipation der entfalteten Einheit.
Im Mittelpunkt steht das Individuum bzw. die Untersuchung darüber, wie es sich durch die Wechselwirkung mit anderen Individuen konstituiert und entwickelt (454) , insbesonderevor dem Hintergrund der Zunahme der Wechselwirkung durch den Bevölkerungszuwachs und die dadurch ausgelöste Veränderung der gesellschaftlichen Struktur. Diese als soziale Differenzierungsprozesse diagnostizierten Veränderungen geben den Grund für die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen diesen und den Individualisierungsprozessen.
Simmels entscheidender methodischer Begriff dabei ist die Wechselwirkung, sie ersetzt die substantielle Vorstellung bspw. solcher Begriffe wie »Individuum« und »Gesellschaft«, die Simmel aber als sinnvolle heuristische Konstrukte im Hinblick auf eine Problemstellung, in der sie als Einheit wirken, bestimmt. Damit schuf er der Soziologie ein modernes methodisches Instrumentarium im Sinne des Relativismus: Da Alles mit Allem in Wechselwirkung stehe, bedarf es der Konstruktion von Einheiten in Begriffen, um ihre Wechselwirkung zu untersuchen; keinesfalls komme diesen Konstruktionen aber substantieller Charakter außerhalb dieser spezifischen Methode zu. Die Soziologie besteht also eigentlich nur aus dieser Methodik, mit der empirische Daten aus anderen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen untersucht werden können. Deshalb nennt Simmelseine Soziologie auch eine formale, denn es werden ausschließlich die Formen der Wechselwirkung untersucht. Das Individuum, dem Simmels eigentliches Interesse gilt, kann hier nicht seinem Wesen oder seinem Interesse nach untersucht werden, denn es ist aus dieser Perspektive als Inhalt etwas anderes als die soziale Form; lediglich die Wirkungen seiner Handlungen, als Wechselwirkung mit anderen Individuen, können in ihren Formen, wie der Arbeitsteilung, Rollendifferenzierung, Konflikte etc., eruiert werden. Aufgrund der Komplexität der Wechselwirkungen und der kontingenten Auswahl begrifflicher Entitäten, um diese zu untersuchen, können auch keine allgemeinen Gesetze über sie ausgesagt werden, allenfalls Regeln.


Grundsätzlich wird in Über sociale Differenzierung der Zusammenhang zwischen dem Individuum und den Formen der Wechselwirkung untersucht. Diese Formen können als formale Beschreibungen der bereits vorgestellten kulturellen Objektivationen übersetzt werden. Lediglich die Perspektive ist eine andere, sie ist entwicklungsgeschichtlich, quantitativ orientiert und somit Ausdruck Simmels erster, d. h. soziologisch-positivistischen Phase seines Schaffens. Unterstellt wird hier eine signifikante Änderung der sozialen Formen, die das Individuum maßgeblich in seiner Individualisierung beeinflussen und auch, gemäß des Wechselwirkungspostulats, umgekehrt, wobei der Fokus auf ersterer Richtung liegt. Als analoge Heuristik bedient sich Simmel bei Herbert Spencers »Gesetz der Evolution«, nachdem sowohl die (vor allem organisch-biologische) Naturgeschichte als auch die gesellschaftliche Entwicklung sowie des menschlichen Seelenlebens ein Wechsel von der undifferenzierten Einheit über die differenzierte Mannigfaltigkeit zur differenzierten Einheit erfahre. (455) Als Regel angewandt soll sie helfen, die Veränderung der sozialen Beziehungsformen und Strukturen zu beschreiben. Das Movens dieser Entwicklung sei das Prinzip der Kraftersparnis. (456) Kraftersparnis erreiche ein Organismus dadurch, dass er immer mehr eigenständige Funktionen oder selbstregulierende Organe ausbildet. Die dann eigenständigen Funktionen sind weniger komplex als der Gesamtorganismus, sie verbrauchen somit weniger Energie, als wenn sie ein einziger komplexer Organismus wären. (457) Dadurch wird Energie für die eigentliche gesamte Funktionserfüllung eingespart; die eingesparte Kraft kann für zusätzliche höhere Funktionen eingesetzt werden, die dem Organismus helfen, sich seiner Vervollkommnung zu nähern. »Jedes Wesen ist in dem Maße vollkommener, in dem es den gleichen Zweck mit einem kleineren Kraftquantum erreicht.« (458)


Simmel verallgemeinert nun, indem er allen archaischen (Überlebens-) Gruppen eine einheitliche Struktur unterstellt, in der das Individuen voll integriert und somit kaum ausdifferenziert sei, sich alle als Gruppe erfahren und kaum nennenswerte Arbeitsteilung existiere. (459) Diese kleine Gruppe sei extrem abhängig von ihren Mitgliedern, die Solidarität innerhalb des maßgeblichen sozialen Kreises sei sehr hoch. (460) Als erste Folge des langsam einsetzenden Differenzierungsprozesses behandelt Simmel die Wandlung der Moralvorstellungen von einer Kollektivverantwortung zu einer Individualverantwortung:
Die moralische Verantwortung für eine bestimmte Tat eines einzelnen Individuums löse sich von der ganzen Gruppe, des sozialen Kreises, meist seiner Familie, und werde dem jeweilig verantwortlichen Individuum zugeordnet. Schon diese Tatsache zeigt, dass nicht mehr jede Tat von der ganzen Gruppe ausgeführt wird, das Individuum kann unabhängig von ihr unsittlich gehandelt haben. (461) Bei fortschreitender Differenzierung, auch der Persönlichkeit, werde der Einzelne bei einer bestimmten Verfehlung nicht mehr als ganzer verurteilt, die Schuld betreffe nur ein Teil von ihm, bspw. bei einer sexuellen Straftat bei ansonsten völliger Untadeligkeit. (462) Diese »Teilschuld« spiegele auch die Differenzierung der Gesellschaft wider, denn nur eine ihrer Konventionen wurde verletzt. Diesnennt Simmel Versittlichung, hier werden die Gesichtspunkte einer sittlichen Beurteilung spezifiziert und konkretisiert. (463) Das Strafmaß werde versucht, so gestaltet zu werden,dass es der Straftat angemessen ist. Der Täter gilt nach Strafvollzug wieder als Mitgliedder sittlichen Gemeinschaft; größere Milde drücke aus, dass des Täters Seele nicht als vollkommen verdorben angesehen werde, seine Triebe solle er nach seiner Rehabilitierung in positiver Weise für die Gruppe einsetzen. (464) Durch die Vergrößerung der Gruppe werden also Differenzierungsprozesse ausgelöst, die wiederum einen Versittlichungsprozess auslösen:

"Denn die Vermehrung der Gruppe fordert in demselben Maße auch Differenzierung; je größer das Ganze ist, desto nötiger ist es ihm, bei der stets vorhandenen Knappheit der Lebensbedingungen, dass [...] jeder sich andere Ziel setze als der andere und, wo er sich die gleichen setzt, wenigstens andere Wege zu ihnen einschlägt als der andere. Dies muß zur Folge haben, daß [...] individuelle Neigungen in einem großen Kreise geeignete Stellen und Möglichkeiten, sich in sozial nützlicher Weise auszuleben, finden werden, während ebendieselben für diejenigen allgemeineren Ansprüche untauglich machen, die der engere Kreis an den Einzelnen stellt, und sich deshalb in diesem dem Wesen der Unsittlichkeit nähern." So ist das Eigeninteresse des Individuums der gesamten Gemeinschaft nützlich und steigert gleichermaßen diesen wie jenen Grad der Vervollkommnung und auch den der Versittlichung wie durch eine List der Vernunft, da diese von den Individuen nicht unbedingt intendiert war. Um egoistische Ziele erreichen zu können, ist in größeren Kreisen der Umweg über gesellschaftliche Institutionen als Mittel dazu nötig, diese Zwischenschritte (bspw. über wirtschaftliche, rechtliche, staatlich-bürokratische Institutionen) sind nicht unmittelbar egoistisch, sondern wirken altruistisch.

Die Frage, wie Individualisierung bei zunehmender sozialer Differenzierung entsteht, demonstriert Simmel an zwei sozialen Kreisen, die anfangs jeder für sich sehr individuell, aber strukturell sehr ähnlich sind, d. h. beide sind sehr klein, homogen und lassen jeweils wenig Freiheit zur Individualität ihrer Mitglieder zu. (466) Durch Bevölkerungswachstum vergrößern sich beide sozialen Kreise, Individuen differenzieren sich von anderen durch vermehrte Aufgabenteilung in diesen komplexer werdenden Gemeinschaften. In diesem Prozess werden sich so die Gruppen immer ähnlicher, die Individuen in ihnen aber immer unterschiedlicher, weil die Formen der Differenzierung gleich oder ähnlich sind. (467) Ähnliche Funktionen entstehen, die ähnliche Positionen für ähnliche Rollen fordern; hohe und niedrige Stände bilden sich anhand unterschiedlich wichtiger und entlohnter Positionen heraus. (468) Diese Anforderungen zwingen die Individuen zur Anpassung durchSpezialisierung und zur Konkurrenz untereinander, gleichzeitig steigt ihre Freiheit hinsichtlich der Wahl der Spezialisierung und den Wegen der Konkurrenzbewältigung und auch dadurch, dass sich ihre Bindung an den ursprünglichen sozialen Kreis, gerade auch durch externe Tauschbeziehungen, lockert: »Die Differenzierung und Individualisierung lockert das Band mit den Nächsten, um dafür ein neues – reales und ideales – zu den Entfernteren zu spinnen.« (469)


Ab einem bestimmten Punkt ist die Individualisierung keine automatische Funktion der sozialen Differenzierung mehr, sie wird Teil eines Individualismus’, eines dem Kulturwesen innewohnenden Willens nach Einzigartigkeit, den es mit der allgemeinen Idee einer »idealen Einheit der Menschenwelt« (470) in formaler Gleichheit amalgamiert. Diese Ideen nehmen die Konsequenz des Differenzierungsprozesses affirmativ vorweg, das Interesse verlagert sich sowohl auf das Individuum als auch auf den weitesten aller Kreise. Hier löst die Kultur endgültig das Erbe der Natur ein; die Verbindung zu Simmels späterer anthropologischer Kulturtheorie gewinnt an Schärfe. Wiederum ist hier aber auch das Motiv des Scheiterns dieser Idee anzutreffen: bspw. »führt die bei Vergrößerung des socialen Kreises eintretende Schwächung des socialen Bewußtseins gerade auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Produktion zum vollständigen Egoismus.« (471) Diese Schwächung wechselwirkt aber wiederum mit den sittlichen Idealen, welche von nun an allgemeine Gesetze zu sein haben, sie kompensieren die Bindungen, die ehemals für das sittliche Handeln sorgten; anfangs als moralische Normen eingeübt, wird diese soziale Nützlichkeit als Vernunft gemäße Einsicht in deren Autonomie konstruiert. (472) Dies ist nur ein Beispiel für die Regel, dass zwischen Individualisierung und Verallgemeinerung ein Reziprozitätsverhältnis besteht. (473) Individualisierung führt also nicht zu Atomisierung, vielmehr wird die Wechselwirkung zwischen dem vergrößerten sozialen Kreis und dem Individuum auf eine neue Ebene gehoben; die stark unterschiedenen Individuen fassen ihre geronnenen Beziehungen abstrakter als früher zusammen, es gelten allgemeine Sitten, Normen, Konventionen, Gesetze und Begriffe, anstatt spezielleren oder willkürlicheren. (474)


Die quantitative Bestimmung der Individualität ermittelt Simmel aus der Kombinati-on von Anzahl und Verschiedenheit der sozialen Gruppen, denen ein Individuum gegenüber anderen Individuen angehört; mit dieser einzigartigen Kombination sei auch das Individuum als einzigartig zu bestimmen. (475) Mit der Differenzierung der Gemeinschaft steigt auch die Anzahl der sozialen Kreise; nicht mehr nur Familie oder Stamm, sondern auch Berufsgruppe, regionale, staatliche Kreise sowie Interessengruppen, Vereine, Hobbys etc. in horizontaler Richtung, und innerhalb dieser in vertikaler Richtung, machen das individuelle Koordinatensystem der Zugehörigkeit zu sozialen Kreisen aus. (476) Das Individuum steht nun im Schnittpunkt vieler unterschiedlicher sozialer Kreise. Die erhöhte Anzahl sozialer Kreise, denen ein Individuum angehört, seien dabei ein Indikator für die Höhe der Kultur und den Grad ihrer Individualisierung. Denn je mehr Kri- sen das Individuum angehöre, desto höher die Wahrscheinlichkeit seiner einzigartigen Kombination von Gruppenzugehörigkeiten, die auch noch durch die innere Differenzierung dieser Gruppen erhöht werde. (477) Das Individuum hat in jedem seiner Kreise eine andere Position mit einer anderen Rollenerwartung, es steht anderen Individuen gegenüber, mit denen es dieselben Interessen vertreten und gleichzeitig in Konkurrenz stehen kann. »Die Kreuzung sozialer Kreise bezeichnet – in heutiger Terminologie – die Erzeugung von Individualität durch unterschiedliche Rollen, die ein Individuum innehat.« (478) Die Persönlichkeit des Individuums bildet sich an der Wahl seiner Gruppen heraus. Die Wahlfreiheit, einer dieser Gruppen oder sozialen Kreise beizutreten, erhöht sich dabei ständig mit der Steigerung der sozialen Differenzierung in modernen Gesellschaften, auch wenn das Individuum nicht jedem Kreis, ohne etwaige Bedingungen zu erfüllen, angehören kann. Dadurch wird auch die Balance zwischen den individuellen Bedürfnissen nach Bindung in einem Kollektiv, nach Art der Bindung in einem sozialen Kreis, und der Freiheit durch Individualität, durch die spezifische Kombination von sozialen Kreisen, befriedigt. (479)

446
Landmann in Simmel 1987, S. 13 ff.
447
Ebd., S. 14 Fn. 6.
448

449
Die Einteilung und Ordnung der Ansätze der Simmelschen Individualierungstheorien wurden aus Junge 2009 (a), S. 65 ff. übernommen, das dortige Nebeneinander aber durch den Vorrang der kulturphilosophischen Bestimmung des Individuums ersetzt, aus dem die historischen und soziologischen Individualisierungstheorien, die Lebensstilanalysen, die Perspektive des quantitativen und qualitativen Individualismus abgeleitet werden.
450
Siehe Kapitel 2.

451
Simmel 1890, S. 3.
452
Simmel 1970, S. 5.
453
Simmel 1987, S. 118.
454
Simmel 1890, S. 20.

455
Lichtblau 1997, S. 32; Dieses Motiv dient Simmel sicher auch zum Vorbild seiner Beschreibung des kulturellen Prinzips, siehe 2.1.1.
456
Simmel 1890 S. 117 ff.
457
Ebd. S. 117; Analog dazu ist das berühmte Beispiel Adam Smiths in der Arbeitsteilung zu sehen, in welchem die Effizienz der Nadelherstellung dadurch gesteigert wird, dass dieselbe Gruppe von Arbeitern, in der ansonsten jeder jeweils eine ganze Nadel herstellt, effizienter ist, d. h. mehr Nadeln herstellt, wenn, ceteris paribus, jeder nur jeweils einen einzelnen speziellen zum Gesamtprodukt
erforderlichen Arbeitsschritt ausführt.
458
Ebd. S. 117.
459
Ebd., S. 21.
460
Ebd., S. 25 ff.

461
Ebd., S. 33 f.
462
Ebd., S. 34.
463
Junge 2009 (a), S. 17.
464
Simmel 1890, S. 36 f.
465
Ebd., S. 41.

466 Bei Simmel trieben diese Verirrungen aber in keiner Weise zu solchen Auswüchse des Hasses auf die Kriegsgegner, auf die westliche Zivilisation, ihren Liberalismus, ihre Wirtschaftsform etc. oder ihren sogenannten Kulturkreis, wie bei einigen anderen Vertretern der deutschen Soziologie. Zu erinnern sei bspw. an Werner Sombarts Händler und Helden von 1915. Simmels jüdische Herkunft mag ihn dabei in einem latent antisemitischen Umfeld zur Zurückhaltung gemahnt haben.
84Ist dies der Fall, muss man, insofern diese psychologische Auswirkung objektiver Natur ist, auch für Simmel Nachsicht gelten lassen.

Ebd., S. 45 f., 49.
467
Ebd., S. 45 f.
468
Ebd., S. 46.
469
Ebd., S. 48; In sehr großen Kreisen kann die Bindung an kleine Kreise wie der Familie gerade die Individualität fördern, die Tendenz ist also eine allgemeine, keine absolute. Siehe: Ebd., S. 51.
470
Ebd., S. 55 ff.
471
Ebd., S. 58 f.
472
Ebd., S. 59 ff.
473
Ebd., S. 65.
474
Ebd., S. 66 f.
475
Ebd., S. 100 ff.
476
Ebd., S. 102 f.
477
Ebd., S. 103.
478
Junge 2009 (a), S. 20.
479
Simmel 1890, S. 106.

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