Beispieltext: Auszug aus einer Hauptseminararbeit zu J.S. Mill

4. Die Kontroverse um das Schadensprinzip Um ein Kriterium zu ermitteln, welches festlegt, wann die Gesellschaft in die individuelle Freiheit intervenieren darf und wann nicht, stellt Mill den Grundsatz auf, „dass der einzige Zweck, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten.

Erstellt von Ghostbuster vor 9 Jahren
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“ Ansonsten gilt der Grundsatz, „dass das Individuum der Gemeinschaft nicht für seine Handlungen verantwortlich ist, soweit diese nur seine eigenen Interessen betreffen.“ Diese ebenso als Schadensprinzip bekannte Formulierung löste eine breite Debatte über die Praktikabilität seines Grundsatzes aus. Mill wurde vielerseits für die versuchte Begründung liberaler Grundsätze mit utilitaristischen Prinzipien kritisiert, was von vielen Kritikern als unmöglich betrachtet wird. Auch der Vorwurf von Eklektizismus und vor allem Inkohärenz wird oft an ihn gerichtet ; eine Kritik, die sich gleichfalls in der Kontroverse um das Schadensprinzip niederschlägt. 4.1 Kritik am Schadensprinzip Eine durchaus berechtigte Kritik am Schadensprinzip zielt auf die Diffizilität der Bestimmung der Dimensionen des Schadens. Mill sage zwar, dass eine Beleidigung des Geschmacks von anderen sowie ihres Sinnes für angemessenes Verhalten nicht darunter falle, sei aber unschlüssig über das Verletzen von Gefühlen. Gerade dies muss jedoch als emotionale Gewalt betrachtet werden, denn bewusstes Beleidigen sowie Mobbing als dessen zugespitzte Form besitzen zweifellos das Potenzial für psychologische Schädigungen. Aufgrund des Faktes, dem zufolge Mill psychologische Schäden nicht explizit thematisiert, entsteht eine Grauzone in seiner Argumentation, sodass die Kritik an der Anwendungsfähigkeit seines Prinzips in diesem Fall berechtigt ist. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Schwierigkeit zur Bestimmung des exakten Zeitpunktes einer Interessenschädigung, weil man dies oft erst entscheiden könne, wenn die Handlung bereits abgeschlossen ist. Dafür lassen sich einige Beispiele bringen, unter anderem eine provokative Meinungsäußerung, von der man vorher nicht wissen kann, ob sie andere beleidigt und somit eine soziale Norm verletzt oder nicht. Allerdings sprechen auch viele Situationen gegen dieses Argument, denn in Angelegenheiten wie Sicherheit, Eigentumsschutz und körperlicher Unversehrtheit stehen deren entsprechende Sicherungsinteressen a priori fest. Zudem kritisiert Nigel Warburton „[…] we are left with no clear guidelines for the application of the principle.“ Zwar ließen sich bestimmte Fälle finden, in denen die Interessen anderer geschädigt werden, dennoch sei es nicht möglich, es auf Einzelfälle anzuwenden.

In der Praxis existiert aber einen Fall, in dem das Schadensprinzip in Verbindung mit Mills Verteidigung individueller Freiheit angewendet wurde. In Großbritannien entschied 1963 ein Richter für die Legalität von Homosexualität, weil es eine selbstbezügliche und daher andere nicht schädigende Praxis sei. Neben all dieser Kritik gibt es allerdings ebenso Positionen, welche von der Möglichkeit zur exakten Bestimmung des Schadensprinzips ausgehen, sodass grundlegend die Möglichkeit besteht, eine Grenze zur Schädigung anderer zu ziehen. Wo genau liegt jedoch diese „Linie im Sand“, die festlegt, wo die Grenze für soziale Intervention in individuelle Handlungen liegt? Wie lässt sich bestimmen, wann die Interessen anderer geschädigt werden, wann hingegen nicht? Und wie lassen sich Interessen überhaupt spezifisch definieren? 4.2 (K)eine „Linie im Sand“? Um dieser Frage nachzugehen, soll zunächst noch eine Kritik an Mill dargestellt werden, bevor dann das Gegenargument eine erste Antwort auf die Fragen gibt. Einer der berühmtesten und eloquentesten kontemporären Kritiker, James Fitzjames Stephen, bemerkte zu Handlungen, die nur die eigene Person betreffen, dass deren Existenz kaum möglich sei: „In fact, by far the most important part of our conduct regards both ourselves and others.“ Dieses Argument ist berechtigt in Bezug auf den Menschen als soziales Wesen, weil er allein schon durch tägliche Interaktionen Einfluss auf seine Mitbürger hat. Es führt aber an der Intention Mills vorbei, einen Raum zu konstruieren, in welchem das Individuum der Gemeinschaft nicht verantwortlich ist. Dabei müssen sich die Nicht-Verantwortung vor der Gesellschaft wie überdies der Fakt, dass man mit seinen Handlungen dennoch die Mitmenschen betrifft, keineswegs ausschließen. Die grundlegende Möglichkeit dazu findet sich im Argument von J.C. Rees, der meint, Mills Differenzierung drehe sich nicht darum, ob eine Handlung eine Auswirkung auf jemanden hat oder nicht. Rees geht es vielmehr darum, zu zeigen, „that there is an important difference between just ‚affecting others’ and ‚effecting the interests of others’ ant that there are passages in the essay which lend support to the view that Mill was thinking of interests and not merely ‚effects’.“ Dieses Diktum lässt sich an alltäglichen Interaktionen empirisch verifizieren. So hat z.B. die Art der persönlichen Lebensführung, die sich unter anderem am öffentlichen Habitus indiziert, eine Auswirkung auf viele Mitmenschen, welche Interessen wie Glück und Wohlstand haben können, die sich komplett von den Auswirkungen der Handlung eines anderen auf sie unterscheiden, sodass in der Konsequenz Effekte und Interessen als separate Konzepte betrachtet werden können. Mill konkretisiert den Begriff der Interessen in seiner Schrift „Utilitarianism“ aus dem Jahre 1863 näher. Quasi zusammenfassend sagt er „the interest involved is that of security, to everyone’s feelings the most vital of all interests.” Damit ist das primäre Interesse explizit als das der Sicherheit bestimmt. Weiterhin sagt er: „The moral rules which forbid mankind to hurt one another […] are more vital to human well-being than any maxims […] which only point out the best mode of managing some department of human affairs.” Dieses Argument vertieft er mit der Aussage „the most marked cases of injustice … are acts of wrongful aggression, or wrongful exercise of power over some one; the next are those which consist in wrongfully withholding from him something which is his due […]” , sodass im Folgenden überdies die Autonomie hinzukommt. Zunächst ist noch festzuhalten, dass es Situationen gibt, in denen die Interessen anderer durch eine Beeinträchtigung ihrer Lebenschancen geschädigt werden. Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn Kandidaten in einem Wettbewerb besiegt werden, in dem nur der Gewinner eine aussichtsreiche Position, wie z.B. einen lukrativen Job, bekommt. Mill spricht sich in derartigen Fällen klar gegen eine Anwendung des Schadensprinzips aus, weil sie durch sozialen Konsens normativ legitimiert sind. Als Konklusion lässt sich daher festhalten, dass eine Schädigung der Interessen anderer nur dann vorliegt, wenn Interessen durch eine Handlung beeinträchtigt werden, die außerhalb des normativen sozialen Konsens liegt.

In Korrelation zu seiner utilitaristischen Denkweise legitimiert Schaden an anderen eine Intervention nämlich nur dann, wenn sie im allgemeinen Interesse liegt. Eine aufschlussreiche Interpretation zu der Frage, wann genau die Handlung nicht mehr sozialer Übereinkunft entspricht, kommt von Tobias Bevc. Er behauptet: „Berechtigte Interessen sind die, die gesetzlich geregelt sind. Nur diese dürfen nicht durch das Handeln eines Individuums beeinträchtigt werden.“ Wesentlich gestützt wird diese Aussage durch eine ausschlaggebende Passage in Mills „On Liberty“. Der liberale Klassiker spricht hier von Interessen, „welche man entweder ausdrücklich durch gesetzliche Verfügung oder durch schweigendes Übereinkommen als Rechte betrachten sollte.“ Die Aussage „als Rechte betrachten sollte“ bedeutet implizit, dass Interessen nicht mit Rechten gleichzusetzen sind. Sie sind aber eng miteinander verbunden, weil, so Rees, die Interessen auf sozialer Anerkennung basieren. Soziale Anerkennung wiederum – darin liegt die implizite Korrelation - führt zum Erlassen eines Rechtes, welches dann die Interessen juristisch verankert. Werden die gesetzlich geregelten Interessen verletzt, darf die juristische Sanktionsmacht zur Geltung gebracht werden. Im Fall des schweigenden Übereinkommens hingegen handelt es sich nicht um gesetzliche festgeschriebene, sondern lediglich durch soziale Normen und Werte entstandene Interessen. Werden derartige verletzt, darf der Schuldige „durch die öffentliche Meinung bestraft werden, wenn auch nicht durch das Gesetz.“ John Stuart Mill liefert mit dieser Spezifizierung ein ausreichendes Kriterium zur Anwendung des Schadensprinzips, denn nun ist evident, wie die Interessen zu konkretisieren sind und wie sie geschützt werden sollen, sodass eine Schädigung relativ präzise definiert werden kann. Interessen sind die, die gesetzlich oder durch sozialen Konsens geregelt sind. Für die Verletzung ersterer steht juristische Sanktionsmacht zur Verfügung, für letztere die öffentliche Meinung. In diesem Zusammenhang muss noch erwähnt werden, dass die Gesellschaft das Interventionsrecht nur für moralische Regeln hat, welche durch das Nützlichkeitsprinzip legitimiert sind. Im konträren Fall wäre der Rahmen ansonsten so weit gesteckt, dass beinahe jede Ansicht über moralisch korrektes Verhalten eine Sanktionsmacht durch die öffentliche Meinung nach sich ziehen würde, was in der Konsequenz die von Mill so gefürchtete soziale Tyrannei der Mehrheit eher verbreiten als eindämmen würde. Insgesamt betrachtet zeigt sich trotz der konzeptionellen Schwäche bezüglich der fehlenden Aussage zu psychologischen Schäden die Möglichkeit zur Anwendung des Schadensprinzips auf konkrete Fälle, da das Kriterium von lediglich selbstbezüglichen Handlungen sowie Interessen, die verfassungsmäßig definierbar sind, als ausreichend präzise anzusehen ist. Sicherlich ist das Prinzip teilweise inkonkret, aber es ist wohl das generelle Charakteristikum der Staatsphilosophie, nur Rahmen und Richtung, nicht jedoch alle erdenklichen konkreten Situationen präzise analysieren zu können. Dies kann nur individuelle Interpretation leisten, sodass im nächsten Abschnitt der Arbeit der Versuch unternommen werden soll, anhand von modernen Fallbeispielen die Anwendbarkeit von Mills Verteidigung individueller Freiheit zu eruieren. (auf die natürlich vorzunehmenden Quellen- und Literaturangaben wurde zugunsten besserer Lesbarkeit verzichtet)

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