Die Ebene des Diskurses in Malraux' "Les Conquérants"

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Die erste wichtige Feststellung, die man bezüglich der Erzählsituation in “Les Conquérants“ anstellen kann, ist, dass sie ganz im Sinne des modernen Romans des 20. Jahrhunderts nicht der ‘persönlichen’, ‘auktorialen’ Erzählsituation (Graevenitz 1995: 99) entspricht, wie das noch der Fall etwa eines André Gide in „Les Faux-Monnayeurs“ ist.

In „Les Conquérants“ handelt es sich um einen Ich-Erzähler, der allerdings sich nicht sehr einfach in eines der Schemata einordnen lässt, die uns Graevenitz (1995) oder Todorov (1966) bieten.

„Les Conquérants“ ist nämlich keine typische autobiographische Ich-Erzählung nach den gängigen Definitionen, wonach eine „Zusammengehörigkeit zweier Lebensstufen des Ich“ (Graevenitz 1995: 88) wie auch eine „existentielle Relevanz des Erzählten für den Ich-Erzähler“ ausschlaggebend sind im Gegensatz zur rein „literarisch-ästhetischen“ Motivation des auktorialen Erzählers (Graevenitz 1995: 89).

Erstellt von hoffmannsprache vor 8 Jahren
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Diese Eigenschaften sind auf jeden Fall in Ich-Erzählungen zu finden wie in Gides „La Symphonie pastorale“ oder „L’École des femmes“. Aber in “Les Conquérants“ ist alles anders.

Der Ich-Erzähler von “Les Conquérants“ ist zwar eine der Figuren des Romans, doch sind die figurcharakterisierenden Informationen über ihn sehr spärlich. Er erzählt kaum etwas über seine Vergangenheit oder über seine aktuellen Gefühle und Gedanken; noch nicht einmal sein Name, eine wichtige Identifizierungs- und Identitätsinstanz, wird erwähnt; die Wörter „je“ und „moi“ kommen in den narrativen Sprechsituationen seltener vor als in einem auktorialen Roman.

Was der Leser über ihn erfährt, kann in ein paar Sätzen wiedergegeben werden: Er stammt aus einer bürgerlichen Familie; seine Eltern waren Geschäftsleute in Haiphong, wo er von einer kantonesischen Amme erzogen wurde und so den Kanton-Dialekt erlernte; er war, wie Garine, eines Tages finanziell ruiniert und fährt nun zu Garine nach Kanton, wo er in der Propagandaabteilung tätig wird.

In nur einigen seltenen Stellen gibt er Auskunft über seine Eindrücke und Meinungen: so z.B. Überlegungen über den neuen, eher wirtschaftlichen als militärischen Krieg zwischen England (Hongkong) und China (Kanton) (z.B. in den ersten Seiten des Romans); sein Staunen gegenüber als abergläubisch empfundenen Vorstellungen der chinesischen Revolutionäre (S. 58-59); seine abgespannte Langeweile in Hongkong und sein ungeduldiger Wunsch in Kanton zu sein (S. 73), die Isolierungs- und Entfremdungsgefühle gegenüber der Armut und den Armen, für die er kämpft (S. 290-291, 295); Entsetzen und Bestürzung bei der Besichtigung der von den Terroristen ermordeten und grauenhaft entstellten Geiseln (S. 275-276); die „tristesse inconnue [...], profonde, désespérée, appelée par [...] la mort présente...“, die er empfindet beim Abschied seines Freundes Garine, in dessen Augenausdruck er „une dure et pourtant fraternelle gravité“ erblickt (in den letzten Zeilen des Romans).

Es gibt nur eine nennenswerte Passage, in der er lange in Erinnerungen schwelgt - aber nur, um die Figur Garines und dessen revolutionären Werdegang zu präsentieren (S. 106-130). Alle anderen Assoziationen mit vergangenen Ereignissen sind historischer und niemals privat-persönlicher Natur.

Spätestens an dieser Stelle ist anzumerken, dass die Illusion von Wahrheit, der Eindruck von Authentizität das einzige ist, das die Ich-Erzählung in “Les Conquérants“ mit dem autobiographischen Modell gemeinsam hat. Ansonsten zieht der anonyme Erzähler seine Persönlichkeit dermaßen zurück (Frohock 1988: 6), dass er keine Handlungsfigur mehr ist, sondern nur Funktionsfigur. Mit anderen Worten: Er wird zur reinen Erzählinstanz. Der Ich-Erzähler von “Les Conquérants“ ist anwesend, bleibt aber stets im Hintergrund; seine Rolle ist mehr die des Vermittlers, des Berichterstatters.

Handelt es sich hier um einen ‘Ich-als-Augenzeuge-Erzähler’ (Graevenitz 1995: 89f.), bei dem die Ich-Perspektivierung vornehmlich die Funktion hat, der Erzählung den obenerwähnten Authentizitätscharakter zu verleihen (Autrand 1992: 34)? Es scheint so zu sein, wenn man sich die Beschreibung Graevenitzens (1995: 89f.) anschaut:

„Der Ich-Erzähler ist nicht mehr selbst Hauptheld des Erzählten. Das Ich ist eine Nebenfigur, die an den Ereignissen um den Haupthelden so viel Anteil hat, dass sie aus erster Hand von ihnen berichten kann, ganz so, wie sich etwa die Romane über Sherlock Holmes präsentieren“.

Das Augenzeuge-Ich stellt nach Graevenitz eine Variante des auktorialen allwissenden Er-Erzählers dar (Graevenitz 1995: 90), welcher „so viel Distanz zum Erzählten [Hervorhebung im Original]“ hat, „dass er es überblicken und von seinem übergeordneten Standpunkt aus organisieren kann“ (Graevenitz 1995: 93). Ein Erzähler also, der das gesamte zu erzählende Geschehen in seinen kausalen und zeitlichen Zusammenhängen kennt und es auf der narrativen Zeitachse so einordnet, wie es ihm gut dünkt.

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