Kommentar zu Marcel Hänggi's "Ausgepowert"

Was ist der Zweck dieses Buches? Diese Frage scheint zunächst so trivial, dass die meisten wohl ohne zu zögern eine Antwort schon nach der Betrachtung des Covers zu geben bereit wären. Doch kann es das wirklich sein? Gibt es nicht bereits genug Literatur zu den behandelten Themen, womöglich mit höherem wissenschaftlichem Wert? Möglicherweise verfolgt Marcel Hänggi mit „Ausgepowert“ eine Intention, die nur erfasst werden kann, wenn das Werk in seiner Gesamtheit infrage gestellt wird

Erstellt von Buddhini vor 8 Jahren
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Das wahre Buch ist zwischen den Zeilen geschrieben. Ich werde diese These jedoch in den folgenden Ausführungen zurückstellen und spezifische Kernthemen im Text analysieren.

Marcel Hänggi’s gesellschaftsorientierter Ansatz bildet die Basis für jedes Kapitel und schafft auf subtile Weise eine starke Differenzierung zu populistischer Hetzlektüre. Seine klare Positionierung gegen eine wissenschaftlich-technologische Lösung systemischer Probleme ist lobenswert, wobei zu erwähnen ist, dass Hänggi schon seit Jahren bekennender Gegner der technokratischen Hierarchie des CERN und seiner Forschung zu sein scheint. Demselben Habitus folgend kritisiert er entschlossen die Erdöl-Lobby und die politischen Strukturen, die den Nährboden für jene moralbefreiten Parasiten unserer Gesellschaft bilden. Der Autor verfügt dabei auch über die nötige Kompetenz, sich in seiner Darstellung nicht auf die Symptome, sondern deren Ursachen, zu beziehen. Der Text ist sehr übersichtlich, einfach und fließend geschrieben, sodass er sich gut eignet, um einem breiten Spektrum von Lesern komplexe Sachverhalte zu vermitteln.

Als kritischer Rezipient sollte man dem Textfluss allerdings entgegenwirken, da es gelegentlich vorkommt, dass ein Index nicht zu einer wissenschaftlichen Quelle führt, wie man es sich wünschen würde, sondern zu genaueren Ausführungen des Autors, die anscheinend nicht mehr auf die Seite gepasst haben. Ohne einen Vorsatz zu unterstellen muss bemerkt werden, dass dies vorwiegend an Stellen stattfindet, wo es der Argumentation zugutekommt. (z.B. Kap.1; S.42; Idx.50)

Es ist auch zweifelhaft, ob es in irgendeiner Weise zielführend sein kann, allen Autofahrern eine faschistische Grundhaltung zu unterstellen. Einige der angeführten Beispiele verschlechtern die Lesbarkeit und erfassen selten die gesamte Bandbreite der Realität. So wird Kuba eine agrarwirtschaftliche Vorbildsfunktion unterstellt, die „einigen Anlass zu Optimismus“ gebe. (S.87) Man ist geneigt, sich vorzustellen, in welcher Situation sich Deutschland heute befände, hätte man 1945 den Morgenthau-Plan umgesetzt.

Also fragen wir uns: Was ist der Zweck dieses Buches? Es ist zu nüchtern, um wachzurütteln, zu weit gefasst, um zu fokussieren, und als wissenschaftlicher Text grundlegend ungeeignet. Doch unter Berücksichtigung aller Eigenschaften, die das Werk aufweist, ergibt sich seine Existenzberechtigung.

Marcel Hänggi trifft den Nerv einer Zeit, in der die Machtverhältnisse so undurchdringlich geworden sind, dass die Kräfte, die unsere Gesellschaft formen, als „die Mächtigen“ empfunden werden. Die Wahlbeteiligung in Deutschland stagniert seit 40 Jahren, weil die einzelne Stimme nichts mehr wert zu sein scheint. Selten war der Schleier, in dem „die Mächtigen“ agieren so dicht, und die gefühlte Ohnmacht des Volkes so erdrückend. „Ausgepowert“ durchleuchtet die wichtigsten Strukturen unseres Systems und führt positive Beispiele an, in denen Bevölkerungen mit flachen Hierarchien durch Eigeninitiative ihre Lebensumstände maßgeblich beeinflusst haben. Hänggi gelingt es, die wahrgenommene Distanz zwischen der normalen Bevölkerung und „den Mächtigen“ zu mindern. Vielleicht ging es ihm gar nicht um das Öl, sondern um die Demokratie.

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