Langeweile als Überdrusserfahrung: ‚Die toten Männer‘ von Lukas Bärfuss

Erstellt von amonahan vor 4 Jahren
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Was für eine Rolle spielt die Liebe? Spielt die Liebe im Leben überhaupt eine Rolle? Lukas Bärfuss erzählt in seiner Novelle Die toten Männer, erschienen 2002 im Suhrkamp-Verlag, aus dem Leben eines Mannes, der des Lebens überdrüssig wird: Nachdem er feststellt, dass er seine Frau Danielle nicht mehr liebt, versucht er, ein neues Leben zu beginnen und sich von Erinnerungen und Abhängigkeiten zu befreien – was ihm jedoch nicht so recht gelingen mag. Durch seine neuen, einsamen Lebensumstände gerät er in einen Zustand voller Appetitlosigkeit, Schlafstörungen und Gefühlskälte und scheint hin- und hergerissen zwischen Lebensmüdigkeit und kurzzeitiger Euphorie. Eine kleine zeitgenössische Erzählung, die die Langeweile als Problem des Wohlstands näher beleuchtet.»Seit einiger Zeit lese ich nicht, in allen Büchern steht dasselbe«, erklärt der namenlose Ich-Erzähler und lädt den Leser somit dazu sein, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob auch in dieser Erzählung nichts anderes steht. Oder ist es genau dieses Nichtvorhandensein von emotional erlebten Geschehnissen, also diese Langeweile, die sie von der Masse der erlebnisorientierten Bücher abhebt? Auch wenn es im Laufe der Geschichte zu einem (wie es eine Novelle verlangt) außergewöhnlichen Ereignis in Form eines Mordfalls kommt, fehlt in dieser Erzählung eine Grundspannung, stattdessen plätschert alles nur dahin – selbst der Mord löst keine besondere Emotionalität aus.Vielmehr scheint der Protagonist in seinem Alltagstrott gefangen zu sein: Er empfindet Lustlosigkeit hinsichtlich seiner zu erledigen Geschäfte als Inhaber einer erfolgreichen Buchhandlung, er ekelt sich plötzlich vor dem »bestimmt schon hundert Mal« verzehrten Gericht seines Stammrestaurants und gönnt seinem Hund, den er lieblos »das Tier« nennt, seinen Spaziergang nicht. Selbst die Todesnachricht eines alten Freundes kann ihn nicht aus dieser Emotionslosigkeit wecken, auch diese Neuigkeit fügt sich für ihn »nahtlos ein in die gänzlich gewöhnlichen Ereignisse dieses Tages«. Die Gewohnheit scheint hier ausschlaggebend und erinnert, gepaart mit der immer wieder klar hervortretenden Gleichgültigkeit des Erzählers, an Meursault aus Camus’ L’Étranger (Der Fremde). Erstaunlich viele Parallelen lassen sich ziehen: die gleichgültigen, liebesunfähigen Züge des Protagonisten, die Mutter im Altenheim, die Besichtigung einer Leiche, schließlich ein Mordfall.Die einzige wirkliche Empfindung des Erzählers, die sich immer wieder hervortut, ist der Ekel. Wie ein roter Faden zieht sich das Ekelgefühl durch die Erlebnisse des Protagonisten, begonnen bei der bereitserwähnten Nahrungszufuhr über das Beobachten einer schwitzenden Sängerin bis zur Erinnerung an seine einst geliebte Frau. Woher aber kommt dieser Ekel? »Der Genuss des Lebens füllt die Zeit nicht aus, sondern lässt sie leer, vor einer leeren Zeit aber hat das menschliche Gemüt Abscheu, Unmut, Ekel«, schreibt Kant in Eine Vorlesung über Ethik über das Gefühl der Langeweile. Und es passt: Mit einem Mal ekelt sich Bärfuss’ Erzähler vor genau den Dingen, die ihm das Gefühl einer leeren Zeit verschaffen – wie die Erkenntnis, dass die Notwendigkeit des Essens kein Ende nehmen wird, dass es immer dasselbe sein wird: Man isst und isst und isst. Auf der einen Seite reagiert er auf das Ekelgefühl mit Selbstverstümmlung durch Nahrungsverweigerung, auf der anderen Seite entwickelt er allerdings eine weitere Strategie, die darin besteht, die gewonnene Energie in ein Aggressionspotenzial umzuwandeln.Doch was führt überhaupt zu diesem Zustand der Lebensüberdrüssigkeit? Könnte er sich vielleicht von seinem eintönigen Leben befreien, indem er sich an einer anderen Lebensart als der eines erfolgreichen Geschäftsmanns versucht? Nein, er meint, die Ursache für seine Unzufriedenheit woanders gefunden zu haben, nämlich in der Liebe: »Man muss sich entscheiden. Entweder Freiheit oder Liebe, und ich habe mich entschieden, künftig ohne die Liebe auszukommen.« Man könnte meinen, hier entwickelt sich eine Geschichte über die Freiheitsfindung und -auslebung, aber schnell merkt der Erzähler, dass er nicht imstande ist, seinen eigenen Willen durchzusetzen – und schließlich überfordert ihn ironischerweise gerade die Entscheidungsfreiheit und er sehnt sich zurück nach klaren Strukturen. Kann dies die Auflösung der nicht zufriedenstellenden Situation des Protagonisten sein: dass alles so ist wie vorher? Oder ist zwar alles wie vorher, aber mit einer neuen Sichtweise auf das immer gleiche, eintönige Leben? Zum Beispiel könnte man die Langeweile wie Wilhelm Genazino in Der Untrost und die Untröstlichkeit der Literatur positiv betrachten: »Lasst uns herumstehen, denn Herumstehen ist Freiheit!« Doch als ein derartiges Plädoyer für die Langeweile kann diese Geschichte nicht dienen, dafür vermittelt sie zu viel Ausweglosigkeit. Das Fazit des Protagonisten scheint zu sein, dass die Kunst des Lebens lediglich darin bestehe, das Leben hinzunehmen; hinzu kommt die trockene Erkenntnis, dass die Liebe keine Rolle spiele und der einzige Sinn der Liebe sei, jemanden zu haben, »der einem dereinst das Ungeziefer vom toten Leib verscheucht«.So bleibt es unterm Strich ein Leseerlebnis, das aufs Gemüt schlägt. Dennoch bieten Die toten Männer einen zwar zugegeben deprimierenden Blick auf die Auswirkungen, die die Langeweile auf das Leben eines Menschen im Wohlstand haben kann, regen auf diese Weise aber zum Reflektieren über den eigenen Umgang mit ihr an.Lukas Bärfuss, Die toten Männer, Novelle, 2002edition suhrkamp, 128 Seiten, 10 €, ISBN: 978-3-518-12306-5

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