Russenkuss - Annuschka, ihre Familie und ich

1. Kapitel: Der Analphabet, der aus dem Flugzeug stieg und nie ankam

Moskau, Flughafen Sheremetjevo, zwei Wochen vor Weihnachten:

Ich muss umsteigen, Moskau ist gerade mal die halbe Strecke bis Jekaterinburg. Um umzusteigen muss ich aber erst zum Inlandsterminal. Nur ist der Inlandsterminal nicht einfach ein Terminal, sondern ein eigener Flughafen, deshalb muss ich zunächst den Bus nehmen.

Erstellt von MM. vor 8 Jahren
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Wo ist dieser verdammte Busbahnhof?! In meinem Kopf schnurren die zweieinhalb Stunden, die ich zur Verfügung habe, zu einem Minutenaufenthalt zusammen, während ich mit meiner schweren Reisetasche an der Schulter orientierungslos durch endlose Gänge haste.

So viel weiß ich bereits: Die Suche nach einem Infoschalter mit englischsprachiger Infeuse wäre reine Zeitverschwendung. Der Exil-Russe im Kölner Reisebüro, bei dem ich den Aeroflot-Flug gebucht habe, hatte eine recht lakonische Antwort parat, als ich ihn fragte, was zu tun sei, wenn ich mich in Moskau nicht zurecht fände: „Wenn Sie wollen, dass sich irgendein Offizieller um Sie kümmert, spielen Sie den Betrunkenen, lassen Sie eine Bierflasche fallen, pöbeln Sie ein bisschen rum. – Aber Englisch…", der Alte lachte spöttisch. „Es gibt ein Sprichwort in Russland: Falls du am Ertrinken bist, solltest du schleunigst schwimmen lernen." Als ich mit den Tickets in der Hand und leicht mulmigem Gefühl im Bauch seinen Laden verließ, machte er ein Fischmaul und fröhlich Schwimmbewegungen: „Denken Sie dran…!" Interessant, dachte ich, im ehemaligen Weltreich des Kommunismus gibt's sogar eine säkulare Version von „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott." Aber warum machte der Idiot ein Fischmaul?! Wenn ich ein Fisch wäre, müsste ich schließlich nicht schwimmen lernen – schon gar nicht Brustschwimmen!

Okay, ich habe zweieinhalb Stunden Zeit, um hier den verdammten Busbahnhof zu finden und in den Bus Nummer 5 zu steigen, das sollte für einen durchschnittlich intelligenten Mann wie mich doch machbar sein. Den Besoffenen spielen kann ich immer noch, wenn's nicht klappt. – Bloß nicht hektisch werden, Markus! Leicht gesagt. Ich schaue auf die Uhr. Wie lang die Busfahrt wohl dauert? Was, wenn diese Busse nur jede Stunde oder so fahren? Inzwischen trage ich die überladene Reisetasche in der Hand, weil meine Schulter schmerzt. Jetzt dengelt sie mir im Laufschritt ständig ans Knie, was auf die Dauer ebenfalls ziemlich wehtut. Warum, verdammt noch mal, habe ich mir nicht so ein praktisches Rollköfferchen angeschafft?! – Ach ja: Ich finde, Männer mit Rollköfferchen im Schlepp sehen albern aus. Womöglich dient die Reisetaschen-Tortur auch dazu, mir einen letzten Rest Männlichkeit gegenüber Anna zu bewahren? Die Vorstellung, ihr bei der ersten Begegnung mit einem Rollköfferchen an der Hand unter die Augen zu treten, würde mir jedenfalls ganz und gar nicht behagen. Die ganze Aktion ist ohnehin ziemlich heikel für (m)ein männliches Selbstverständnis. Da sich meine Russischkenntnisse nach wie vor auf „Harascho", „Spasiba" und „Doswidanje" beschränken, werde ich nolens volens für die nächsten zwei Monate wie ein Kleinkind an Annuschkas Rockzipfel hängen. Und weil ich nach wie vor auch nicht in der Lage bin, Kyrillisch zu lesen, ist mein einziger Trost hier auf dem Flughafen: wenigstens die Zahlen sind auch in Russland arabische. Habe ich erst den Busbahnhof gefunden, sollte der Bus Nummer 5 also kein Problem darstellen. – Also ruhig bleiben, gaanz ruhig, nicht hektisch werden!

Da, ein Piktogramm! Noch nie in meinem Leben habe ich mich so sehr über ein Wegweiser-Bildchen gefreut. Es zeigt zwar keinen Bus, sondern einen Fußgänger, aber entscheidend ist, dass es hier überhaupt Piktogramme gibt! Das ist ja das Schöne am Reisen: neue Erfahrungen, ungekannte Emotionen. Sagt man … Und es stimmt. Als ich endlich das ersehnte Bus-Piktogramm erblicke, durchströmt mich ein wunderbares, großes Gefühl von Stolz und Zuversicht. So muss Kolumbus sich gefühlt haben, als der Ausguck rief: „Land in Sicht!" – Leider wissen wir, dass sich Kolumbus zu früh gefreut hat … Sei gefälligst nicht so ein Pessimist, Markus, keine Hektik! Such dir den Bus Nummer 5 und ab geht's! Uhrencheck. Super in der Zeit.

Ich stehe wie angewurzelt da und starre auf das letzte Bus-Piktogramm: Das da ist eindeutig kein Busbahnhof, obwohl es die Ausmaße eines Busbahnhofs hat. Vom Geruch her unterscheidet es sich kaum von einem durchschnittlichen Busbahnhof, aber mein Augenlicht trügt mich nicht: Es ist die zentrale Flughafentoilette! Ich gehe erst mal pinkeln.

Als ich mit leichter Blase und schweren Gedanken aus den Toiletten trete, entdecke ich einen kleinen, versteckten Ausgang. Und das hinter der Tür … ja, das ist ein Bus! Eindeutig. Ich könnte freudig losspurten, hätte ich mir nicht ausgerechnet jetzt den Hemdzipfel im Reißverschluss eingeklemmt.

Der Busfahrer lädt bereits Gepäck ein, als ich, immer noch am Hosenstall fummelnd, zu ihm trete und meine geballten Russischkenntnisse zum Einsatz bringe: „Aeroport?" Ich deute dabei demonstrativ in weite, ungeahnte Ferne. Am Flughafen nach dem Flughafen zu fragen, kann schließlich leicht zu Missverständnissen führen. Statt wenigstens zu nicken, reißt er mir die Reisetasche aus der Hand und schleudert sie ins Gepäckabteil. Ich bin noch nicht überzeugt und deute auf den Bus: „Aeroport Jekaterinburg?" Der Mann hat sich schon abgewendet und bedeutet mir mit einem ungeduldigen Wink über die Schulter, einzusteigen. Ich zögere noch immer. Schließlich könnte er meine Frage auch so deuten, dass ich vorhabe, die nächsten zweitausend Kilometer bis in den Ural per Bus zurückzulegen. Los, Markus, lass den Blödsinn! Steig ein, du Memme! Der Fahrer lässt bereits den Motor an und würdigt mich keines Blickes. Sein Gestus lässt keinen Zweifel daran, dass er auch mit meiner Tasche und ohne mich fahren würde. Babysitter spielen für so ein zauderndes deutsches Sprachgenie, das sich auch noch ständig am Genital rumfummelt, hat ihm gerade noch gefehlt. Ich greife hastig nach der Stange und schwinge mich hinein ...

AUSZUG ENDE

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