Die frühe deutsche Shakespearerezeption (Auszug als Textbeispiel)

2.Shakespeare vor dem Hintergrund des Klassizismus –

die Rezeption in Deutschland zwischen 1740 und 1770

Erstellt von Fortunatus vor 9 Jahren

Die Shakespeare-Rezeption des frühen 18. Jahrhunderts war zunächst durch eine äußerst spärliche Anzahl an Übersetzungen in Form von Auszügen, bedingt. Im öffentlichen Literaturbewusstsein sowie auf der Bühne dominierten die Dramen der französischen Klassizisten, deren Formstrenge und aufklärende Didaxe Johann Christoph Gottsched als Vorbild für eine edukative Regelpoetik im Sinne der Aufklärung galten.1

Ausgangsvoraussetzungen einer zunehmenden Shakespeare-Rezeption in Deutschland waren einerseits die Hinwendung des deutschen Bürgertums zur englischen Kultur im Allgemeinen, sowie eine weitverbreitete Diskussionskultur, an deren Genese literarische Netzwerke wie das Zeitschriftenwesen maßgeblichen Anteil hatten.2 Vor allem die übersetzten Ausgaben ausländischer Zeitschriften wie des englischen Spectator trugen dazu bei, dass deutsche Leser auf Shakespeare aufmerksam wurden.3

Im Zuschauer, der deutschen Ausgabe des Spectator, war es denn auch, dass die Diskussion um Shakespeare an Breitenwirkung gewann.4 Vor allem die Übersetzung des Julius Caesar durch Caspar Wilhelm von Borck 1741,5 sowie deren scharfe Kritisierung seitens Johann Christoph Gottsched6 leiteten eine Phase divergierender Positionen für und wider Shakespeare ein. Hauptgegenstand der Polarisierung war die vermeintliche Regelwidrigkeit des englischen Dichters vor dem Hintergrund der aristotelischen Poetik,7 deren Ausführungen über die Einheit von Ort, Handlung und Zeit innerhalb der Tragödie als im Grunde zeitlose Gesetze der Dramenproduktion interpretiert wurden.8

Die Argumentationen der Bewunderer Shakespeares nahmen häufig einen apologetischen Charakter an; es wurde versucht, offensichtliche Regelverstöße und vermeintliche Geschmacklosigkeiten in den Dramen Shakespeares durch andere Vorzüge wenn nicht zu rechtfertigen, so doch zu entschuldigen.9

Bezeichnend für diese frühe Rezeptionsphase sind die wechselnden Stellungnahmen Christoph Martin Wielands, der eine erste umfassende Prosaübersetzung von Shakespeares Dramen vorlegte, sich jedoch trotz grundsätzlicher Begeisterung für den Dichter immer wieder durch Auslassungen und Kommentare innerhalb seiner Veröffentlichung distanzierte.

Begeistert schreibt er am 24.04.1758 “[v]ous connaissez sans doute cet homme [Shakespeare] par ses ouvrages. Je l’aime avec toutes ses fautes“10 und entschuldigt den englischen Dichter am 08.11.1758 wie folgt: „Seine [Shakespeares] Schönheiten sind es für alle Nationen und Zeiten, seine Fehler sind die Fehler seiner Zeit. Er muste sich wie Tasso gefallen laßen, dem herrschende Geschmack zu schmeicheln, um den Beyfall der Menge zu haben.11“. Im Vergleich dazu nehmen sich manche Bemerkungen in den Übersetzungen, die zwischen 1762 und 1766 veröffentlicht wurden, distanzierter aus:

In einer Äußerung zu König Heinrich IV macht Wieland das englische Volkswesen für vermeintliche Geschmacklosigkeiten verantwortlich:

„Man muß Engländer seyn, diese Scenen von Engländern spielen sehen, und eine gute Portion Pounsch dazu im Kopfe haben, um den Geschmak daran zu finden, den Shakespears Landsleute gröstentheils noch heutigen Tages aus diesen Gemählden des untersten Grads von pöbelhafter Ausgelassenheit des Humors und der Sitten finden sollen.12

An anderer Stelle zielt Wielands Kritik gar direkt auf die Fähigkeit Shakespeares als Dramatiker. Zur „armselige[n]“ Handlungsentwicklung in Zwei Herren aus Verona schreibt er:

Man hat schon lange sehen können, dass die Entwicklung [der Handlung] gar nicht dasjenige ist, worinn sich der Genie unsers Autors zu seinem Vortheil zeigt, aber eine armseligere lässt sich nicht erdenken als diese hier. Pope selbst weiß nicht bessers zur Entschuldigung des Poeten zu sagen, als dass er das alles so in dem Historien-Buch oder der Novellen gefunden, woraus es das Stück entlehnt habe.13

In seiner Schrift Der Geist Shakespears (1773) scheint Wieland seine Meinung über Shakespeares „Mängel“ schließlich revidiert zu haben:

Shakespear ist, däucht mich, unter allen Büchern das letzte, das sich ein Mann von Verstand und Geschmack nehmen lassen sollte. [...] Die wahre Quelle dieser Mängel liegt nicht (wie man zu sagen gewohnt ist) in der Ansteckung des falschen Geschmacks seiner Zeit, - denn ein Geist wie der seinige läßt sich nicht so leicht anstecken – noch in einer unedlen Gefälligkeit gegen denselben [...] – sie liegt in der Grösse und in dem Umfang seines Geistes. [...] Seine Schauspiele sind, gleich dem grosen Schauspiele der Natur, voller anscheinden Unordnung – [...] Schönes und Ungestaltes, Weisheit und Thorheit, Tugend und Laster, - alles seltsam durch einander geworfen – und gleichwohl, aus dem rechten Standpuncte betrachtet, alles zusammengenommen, ein groses, herrliches, unverbesserliches Ganzes!14

Umso kurioser nimmt sich die Andeutung Wielands in seinen Bemerkungen Über das Schauspiel, Götz von Berlichingen, mit der eisernen Hand (1774) aus, Shakespeare hätte regelkonform wohl doch besser geschrieben.15

Eine neue Stoßrichtung erhielt die Diskussion durch die Äußerungen Gotthold Ephraim Lessings in dessen Hamburgischen Dramaturgie, sowie im berühmt gewordenen 17. Brief, „die neueste Litteratur betreffend“, in welchem er vorweg Gottsched, als dem einflussreichsten Schutzherrn und Propagandisten des französischen Klassizismus, jeglichen Verdienst am deutschen Theaterwesen abspricht.16 Mit dem Verweis auf die – a priori vorausgesetzte – „deutsche Denkungsart“, welche dem „Große[n]“, „Schreckliche[n]“ und „Melancholische[n]“ vor dem „Artige[n]“, „Zarte[n]“ und „Verliebte[n]“ des französischen Theaters den Vorzug gebe, erklärt Lessing englische Dichter wie „Johnson“, „Beaumont“, „Fletcher“ und vor allem Shakespeare zu Ikonen, deren Werke dem deutschen Volk wesensmäßig näher stünden.17

Damit erscheint Lessing als früher Anreger einer ethnisch spekulativen Betrachtungsweise, in der sich ästhetische und poetologische Vorstellungen mit dem Interesse an einer deutschen Identitätsbildung verbinden und die beispielsweise in Johann Gottfried Herders Ausführungen zur Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst18, sowie im Deutschland-Hamlet-Kult des 19. Jahrhunderts19 ihre national gekleidete Fortsetzung fand. Weist Lessing in die Goethezeit und darüber hinaus, so bleibt er doch insofern der Shakespeare-Rezeption seiner Zeit verpflichtet, als er überwiegend in einem wirkungsästhetischen Rahmen argumentiert:

Auch nach den Mustern der Alten die Sache zu entscheiden, ist Shakespear ein weit grösserer tragischer Dichter als Corneille; obgleich dieser die Alten sehr wohl, und jener fast gar nicht gekannt hat. Corneille kömmt ihnen in der mechanischen Einrichtung, und Shakespear in dem Wesentlichen näher. Der Engländer erreicht den Zweck der Tragödie fast immer, so sonderbare und ihm eigene Wege er auch wählet; und der Franzose erreicht ihn fast niemals, ob er gleich die gebahnten Wege der Alten betritt.20

Interessant an den Betrachtungen Lessings ist ferner, wie sich die Rezeption der englischen Dichtung auf die vorherrschende Orientierungspunkte der deutschen Dramenproduktion, nämlich die Tragödiendichtung der griechischen Antike und des französischen Klassizismus, mit auswirkt. Die Begeisterung für die Werke Shakespeares zum einen sowie die Autorität der Poetik des Aristoteles zum anderen führen offensichtlich zu dem Wunsch, jene für letztere integrierbar zu machen. Da aber Shakespeares Dramen den äußeren Kriterien nach den „Mustern der Alten“ zuwider laufen, löst Lessing den Widerspruch durch die Unterscheidung zwischen dem „Wesentlichen“ und der äußeren „mechanischen Einrichtung“, die zugleich in ihrer Bedeutung relativiert wird. Argumentiert wird vom „Zweck der Tragödie“ her, den Shakespeare, „der Engländer“ im Gegensatz zu Racine, „de[m] Franzose[n]“ fast immer erreiche und womit wohl die Wirkung der Tragödie durch „Mitleid und Furcht“21 gemeint ist.

Die qualitative Aufspaltung des antiken Tragödienbegriffs in „wesentlich“ und „äußerlich“ hat aber eine Herabsetzung des französischen Klassizismus zur Folge, da durch diese Setzung das klassizistische Drama als eine Fehlinterpretation des antiken Vorbilds zugunsten des Äußerlichen erscheint. Ob diese Diskreditierung in erster Linie logische Konsequenz oder vielmehr kulturpolitisches Kalkül ist, lässt sich - als ein Problem von Ursache und Wirkung - nicht endgültig lösen; wie schon in obigem Falle einer von Lessing aus „deutsche[r] Denkungsart“ hergeleiteten deutschen Dramenrezeption ist auch hier eine Vermischung poetologischer und national abgrenzender, d.h. identitätsstiftender Motive anzunehmen.

Festzuhalten bleibt, dass die Shakespeare-Rezeption eine Rückwirkung auf vermeintliche Fixpunkte der Dichtungslehre des mittleren 18. Jahrhunderts in Deutschland entfaltet. Vor allem die Revision der aristotelischen Poetik kann im Kontext eines literarischen Säkularisationsprozesses gedeutet werden, in dessen Verlauf einst „heilige“ Gesetze der Dramenproduktion auf ihre aktuelle Relevanz und Produktivität geprüft und wenn nötig als Zeitzeugnisse historisiert werden. Letzteres blieb Dichtern und Theoretikern der Goethezeit, namentlich Johann Gottfried Herder vorbehalten.

1 Schabert, S. 722

2 Ebd.

3 Ebd., S. 721

4 Ebd.

5 Bemerkenswert ist die Vorrede Borcks, in welcher er die Aufnahme seiner Übersetzung antizipiert und deren Ton zwischen zynischer Polemik und tiefstapelnder Koketterie zu changieren scheint: „Der Verfasser hat es [die Übersetzung] aus blossem Vorwitze unternommen, und aus Unbedachtsamkeit in den Druck gegeben. Er ist mit der Kranckheit behaftet, welche heutiges Tages mehr als jemahls eingerissen, dass Leute, welche kaum lesen und schreiben können, dennoch Bücher schmieren wollen. […] Niemand aber wird ihm einen grössern Gefallen thun, als wer die gegenwärtige Arbeit vernünftig durchziehet, und die häufigen Fehler daraus entdecket. Dadurch wird der Verfasser recht aufgemuntert werden ein seinem Müßiggange noch mehr dergleichen gestohlne Schrifften auszuhecken, und den Buchdruckern Arbeit zu verschaffen. […] Stellmacher, S. 37

6 „Die elendeste Haupt- und Staatsaction unsrer gemeinen Comödianten ist kaum so voll Schnitzer und Fehler wider die Regeln der Schaubühne und gesunden Vernunft, als dieses Stück Shakespeares ist.“ Stellmacher, S. 38

7 Gottsched zitiert die 592. Ausgabe des Zuschauer: „Unser unvergleichlicher Schakespear ist ein rechter Stein des Anstoßens für alle solche Tadler. Wer wollte nicht lieber nur ein einziges von allen seinen theatralischen Gedichten lesen, darinnen N B. nicht eine einzige Regel der Schaubühne beobachtet ist, als irgend eine Geburt unsrer neuen Kunstrichter, darinnen keine von allen verletzet ist?“ Stellmacher, S. 39
Dem hält Gottsched entgegen: „Die Unordnung und Unwahrscheinlichkeit, welche aus dieser Hindansetzung der Regeln entspringen, die sind auch bei dem Schakespear so handgreiflich und ekelhaft, dass wohl niemand, der nur je etwas vernünftigers gelesen, daran ein Belieben tragen wird. Sein Julius Cäsar […] hat so viel niederträchtiges an sich, dass ihn kein Mensch ohne Ekel lesen kann.“ Stellmacher, S. 39

8 Schabert, S. 723

9 Ebd., S 722

10 Stellmacher, S. 64

11 Ebd.

12 Ebd., S. 65

13 Ebd., S. 65f.

14 Ebd., S. 67

15: „Indessen gestehen alle Kenner und Leute von Geschmack in England, daß ein Shakespear, der in unsern Tagen, mit gleichen Talenten, regelmäßige Stücke schriebe, wohl daran thun würde; und daß sich alle Vortheile, welche man durch Verletzung solcher Kunstgesetze, sie sich auf die Natur selbst gründen, erhält, nicht verhindern können, daß Fehler nicht Fehler, und Ungereimtheiten nicht Ungereimtheiten seyn sollten.“ Stellmacher, S. 71

Im dritten Brief An einen jungen Dichter (1784) bestreitet dann Wieland wieder umgekehrt die Überzeugung, „daß Shakespear durch Regelmäßigkeit nicht mehr verlohren als gewonnen hätte.“ Stellmacher, S.72

16 „’Niemand’, sagen die Verfasser der Bibliothek, wird leugnen, ‚daß die deutsche Schaubühne einen grossen Theil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe.’ / Ich bin bin dieser Niemand; ich leugne es gerade zu. Es wäre zu wünschen, daß sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeinten Verbesserungen betreffen entweder entbehrliche Kleinigkeiten, oder sind wahre Verschlimmerungen.“ Stellmacher, S. 74

17 Ebd. S. 75f.

18 „Wenn wir gleich Anfangs die alten Britten als ein eignes Volk an Sprache und Dichtungsart absondern, wie die Reste der walischen Poesie und ihre Geschichte es darstellt: so wissen wir, daß die Angelsachsen ursprünglich Deutsche waren, mithin der Stamm der Nation an Sprache und Denkart deutsch ward.“ Stellmacher, S.124

„Grosses Reich, Reich von zehn Völkern, Deutschland! Du hast keinen Shakespear, hast du auch keine Gesänge deiner Vorfahren, deren du dich rühmen könntest? [...] Kein Zweifel! Sie sind gewesen, sie sind vielleicht noch da; nur sie liegen unter Schlamm, sind verkannt und verachtet... Legt also Hand an, meine Brüder, und zeigt unsrer Nation, was sie ist und nicht ist? wie sie dachte und fühlte, oder wie sie denkt und fühlt...“ Stellmacher, S. 128

19 Loquai, Franz: Hamlet und Deutschland: zur literarischen Shakespeare-Rezeption im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1993, S. 3ff.

20 Stellmacher, S.76

21 Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie, Reclam Stuttgart, 1981, S. 408ff.

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