Mutters Hände

Erstellt vor 11 Jahren
Er saß in letzter Zeit lange am Krankenbett seiner Mutter. Jede Minute erschien ihm kostbar, denn die Uhr ihres Lebens war abgelaufen. Aus ihren blind gewordenen Augen schaute sie regungslose in eine, so schien es, endlos gewordene Leere. Sie sprach kaum noch und bewegte sich seit Wochen nicht mehr. Sie war ein Pflegefall. Der Sohn saß niedergeschlagen an ihrem Krankenlager und betrachtete ihr Gesicht. Er suchte die ihm seit seiner Kindheit vertrauten Gesichtszüge und die Regungen darin, in denen er früher sofort jede Gemütsverfassung erkannte. Nun lag sie leblos vor ihm und die Mimik war fast erloschen. Die Signale des Lebens waren schwach. Als er ihre Hände sanft streichelte, sah er eine Träne aus dem Augenwinkel die farblose Wange hinabrollen. Dieses stille Leiden seiner einst so lebhaften Mutter wühlte sein Innerstes auf und in ihm stieg ein krampfhaftes Schluchzen die Kehle empor, bis ihm die Augen brannten. Er sah wie durch einen transparenten Schleier die Hände der Mutter, in ihr Schicksal ergeben, auf der dunklen Decke liegen.  Sie hatte sehr lange gegen die vielen schweren Krankheiten gekämpft, bis es nicht mehr ging. Bis ihre Kraft und ihr Willen zerbrochen waren. Sie lag auf dem Fußboden ihres kleinen Häuschen und war bewusstlos, bis man sie fand. Sein Blick blieb an ihren Händen hängen. Die Finger waren durch Gichtknoten an den Gelenken aufgetrieben und leicht gekrümmt. Die Mutter hatte keine ausgesprochen „schönen“ Hände mehr, mit langen Fingern und einer ehrlichen Arbeit entwöhnt. Nein, sie hatte kleine, feste und Arbeit gewohnte Hände. Sie hatten ihr niemals das große Geld erarbeiten können, denn das bekommt man nicht durch Fleiß. Was diesen verarbeiteten Händen anhaftete, und das auch die Leiden eines schweren Lebens nicht auslöschen konnten, war die Einfachheit und die Ehrlichkeit die sie ausstrahlten. Man sieht es Händen an, zu wem diese passen und wohin sie am liebsten greifen ! Das ist nun einmal so. Der eine sieht eben die Dinge wie sie sind, mit dem Herzen und dem Verstand, weil er das Leben mit seinen vielfältigen Bewegungen kennen gelernt und analysiert hat und ein anderer sieht nur mit seinen Augen, weil ihm die Kombination von beiden Eigen­schaften von der Natur nicht gegeben wurde.  Deshalb muss ein jeder das im Leben tun, zu was es ihn treibt. Flüchten vor dieser Erkenntnis kann aber keiner. Und das ist gut so. Man sieht aus welchem Holz einer ist. Ein tiefer Seufzer quälte sich aus der Brust der Mutter. Sie hat sicher auch Schmerzen, ging es dem Sohn am Bett durch den Kopf. Sie hatte zuviel gelitten. Ihre eigene Mutter starb, da war sie erst sieben Jahre alt. Eine Stiefmutter quälte ihr Kinderherz. Dann kam ihre erste und einzige große Liebe und ihr Kind. Danach kam der Krieg, der Tod und der Hunger. Sie wurde Witwe und ihre Söhnchen Halbwaise. Was später noch kam, war fürs Überleben, nicht mehr für das Herz. Und das ist gebrochen, gebrochen an den Übeln dieser elenden Menschheit. Mutter, ich bin immer bei dir, auch wenn du nicht mehr unter uns bist. Die Gedanken und den Geist kann niemand töten. Wir fallen in Gottes Hand, wenn unser Leben gerecht war. Das war deines! 1
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