LESEPROBE Wie Christian 1725 (Text aus einer Chronik mit 276 S. )

Wie Christian 1725 wegen

seiner Tochter Marie Elisabeth viel Ungemach hatte

Wieder einmal war es Frühling geworden in Parkentin, Frühling mit all seinem Zauber wie jedes Jahr. Mit lauer, duftender Luft, dem regen Plätschern des Stegebaches und Frühlingsblumen am Wege.
Der vorösterliche Gottesdienst war zu Ende. Nach und nach verließen die Dorfleute die Kirche. Ihr Gemurmel und das Gescharre ihrer derben Schuhe auf den Holzdielen übertönten die leisen Geräusche, die der Küster Christian Armerding machte, als er alles Nötige für die Taufe am Nachmittag vorbereitete.

Erstellt von viburnum vor 12 Jahren
Eben wollte er die Kirche verlassen, als er merkte, dass Marie, seine 19-jährige jüngste Tochter, noch auf ihrem Platz in der Kirchenbank saß. Sie hatte den Kopf gesenkt und betete andächtig, wie ihm schien.
„Komm", rief er leise nach einiger Zeit, ,,es wird Zeit“.
Da streckte sie ihm stumm die Arme unter der langen Mantille entgegen, und er sah, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.
Erschrocken ging er zu ihr hin. „Was ist mir dir, mein liebes Kind?" fragte er. Lange verharrte sie fast bewegungslos.
„Hier nicht", brachte sie nach einiger Zeit mühsam hervor. Und schnell, ohne ihn anzusehen, fasste sie den Ratlosen am Arm und führte ihn den kurzen Weg nach Hause in die friedliche Stube.
Sie setzten sich auf die Bank. Fragend sah er immer wieder seine Tochter an. „Vater, du kennst doch den
Jäger Ludwig", sagte sie endlich.
„Den Jäger vom Major Viettinghoff zu Reez?"
„Ja, den."
„Der Burmeister. Wie sollte ich den nicht kennen, er hat uns doch erst im Hebst das Deputat Holz gebracht."
„Er kam immer und immer wieder", sagte sie zaghaft und verstummte erneut.
„Worum? Wann? Was wollte er?", fragte er ein wenig unbeholfen. Zwar beschlich ihn eine Ahnung, aber vor allem war er verstört.
„Er kam, wenn er wusste, dass du in der Kirche bist und Mutter mit Anna, Henning und Jörgen auf dem
Feld war oder woanders." Sie atmete schwer.
„Er hat mir Nüsse mitgebracht und", sie zögerte, „Liebliches gesagt."
„Wie? Was? Liebliches?" Das letzte Wort stieß er geradezu verächtlich hervor. „Und du, hast du ihm etwa schöne Augen gemacht? Ihm Mut gemacht?"
Jetzt blitzte sie ihn mit großen Augen an. „Ich bin schon neunzehn, Vater, hast du das vergessen? Soll ich eine alte Betschwester werden? Eine Jungfer-fass-mich-nicht-an, die zu nichts taugt und ihren alten Eltern auf der Tasche liegt?"
Und sie erzählte ihrem Vater, was vorgefallen war. Dass der Jäger Ludwig freundlich und ritterlich gewesen sei. Dass er ihr von mal zu mal besser gefallen habe. Dass sie sich mit ihm getroffen habe am Hütter Wald.
„Zu einem Spaziergang", betonte sie.
„Aha, zu einem harmlosen Spaziergang", warf er spöttisch ein. „Einmal oder mehrmals?"
„Mehr als einmal", gab sie widerwillig zu.
Sie faltete ihre schmalen Hände so fest, dass die Knöchel ganz weiß wurden.
„Als Schnee gefallen war, konnten wir nicht mehr draußen bleiben in Wind und Kälte. Wir sind in die
Jagdhütte gegangen. Dort haben wir uns verlobt. Das war im November, am Ewigkeitssonntag."
„So, in einer Jagdhütte . Aber erst als Schnee gefallen ist", murmelte der Vater ahnungsvoll.
Nun sah sie ihn an. „Vater, davor hat er mir noch einmal die Heirat angetragen, als Dorthie und Jörgen
dabei waren. Zum zweiten Mal, nachdem er es schon unter vier Augen getan hatte."
„So, die Ehe versprochen. Soll ich dafür danke sagen? Worum sagt er es nicht mir und deiner Mutter, wie es üblich ist?", fragte er und funkelte sie ergrimmt an.
„Denk daran, er ist ein angesehener Mann", erwiderte Marie. „Ich könnte mich doch freuen, dass er mich heiraten will."
„Und warum weinst du, wenn das alles so schön ist?"
„Weil, weil... ich weiß nun, dass ich ein Kind von ihm kriege. Zu Epiphanias habe ich es Ludwig gesagt", wisperte sie und brach erneut in Tränen aus.
„Er will nun nichts mehr wissen von mir", fuhr sie stockend unter Schluchzen fort.
„Mein armes Mädchen. Nichts mehr wissen will er von dir? Das werden wir sehen!", rief der Vater. ,,Ein ganz feiner Herr ist das! Und alle wissen Bescheid, bloß ich nicht."
„Er hat mir acht Taler gegeben, damit er von seinem Versprechen loskommt."
„Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit!", rief der Küster empört auf Hochdeutsch und hob die gefalteten Hände. „Acht Taler, was denkt er sich dabei? Was will er damit kaufen? Was für ein Hohn! Schon morgen gibst du ihm das Geld zurück."
Und in seinem Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander, die Vorstellungen von all dem Unheil, das nun auf sie zukommen würde.
Fest stand, seine Tochter hatte einen Fehltritt getan. Für unverheiratete Frauen war Ehre gleichbedeutend mit Jungfräulichkeit. 'Rein' war der Beischlaf nur in der Ehe. Vorehelich war er geächtet und von der Kirche streng verurteilt. Damit gefährdete jede junge Frau ihrer Ehre und ihr Ansehen. Ihre Heiratschancen standen schlecht. Als ledige Mutter ohne Mann, der für das Kind gerade stand, würde seine Tochter würde es schwer haben, einen ehrenwerten Ehemann zu finden.
Es war warm in der Stube, aber ihn fröstelte plötzlich. Flüchtig ging ihm ein Gedanke durch den Kopf. Wäre es denkbar, das Kind abzutreiben? Er wusste von ausgepresstem Wermut als Mittel. Nein, auf keinen Fall, sagte er sich. es wäre Sünde und würde Marie gefährden.
Doch was konnten sie tun? Wie weiter? Wer würde dem Jäger schon seinen schmählichen Betrug ankreiden? Wohl kaum jemand. Männer kamen viel eher ungeschoren davon, sie konnten ihren Begierden nachgeben. Die Folgen trug allein die Frau, ihr stand nicht das Gleiche zu, was Männer taten.
Immerhin, seine Tochter war nicht dumm gewesen. Sie hatte richtig gehandelt, als sie ihn im Beisein von zwei Zeugen sein Eheversprechen wiederholen ließ. Aber wie es schien, hatte sie sich danach schnurstracks mit ihm in der Hütte niedergelegt. Verdammt... Nicht fluchen, Alter, ermahnte er sich.
„Schon morgen gibst du ihm das schändliche Geld zurück", wiederholte er entschlossen. „Und sein
Versprechen gilt, das werden wir sehen!"
Lenkte der saubere Jagdmann nicht ein, würde er es ihm zeigen. Sie konnten sogar vor Gericht ziehen und die Ehe einfordern. Ja, das wäre ein Weg.
Marie tat, wie ihr der Vater geheißen hatte. Sie vereinbarte ein Treffen mit dem Jäger Ludwig, diesmal in keiner Jagdhütte, sondern in der Sakristei der Kirche. Zitternd und mit klopfendem Herzen sagte Marie die Worte, die sie sich vorher zurechtgelegt hatte:
„Ein Eheversprechen bleibt ein Eheversprechen. Erst recht, wenn ein Kind unterwegs ist." Laut klirrten die acht Münzen auf dem Tisch, als Marie sie ihm hinwarf.
Der Einigungsversuch blieb erfolglos. Der Jäger wollte Marie partout zu einer Abtreibung überreden. Dafür solle sie die Taler nehmen. Als sie nicht darauf einging, behauptete er, sie sei schuld, sie habe ihn verführt, und das Kind sei womöglich gar nicht von ihm. In die Enge getrieben, hob er schließlich sogar die Faust und versetzte ihr einige derben Hiebe.
Wenige Tage darauf schrieb Christian Armerding einen Brief an den Landesfürsten:

 

Durchlauchtigster Herzog, gnädigster Fürst und Herr!

...muß untertänigst klagen, daß Ludwig Burmeister, der Jäger bei Generalmajor von Viettinghoff, meine Tochter

Marie Elisabeth unter der Zusage, sie zu ehelichen, verführet, deflorieret und geschwängert, welche Zusage er in Gegenwart meines Sohnes Jürgen Christoffer und meiner Tochter Anna Dorothea repetieret, nun aber sich unterstehet, solches Gelübde eigenmächtig zu zerreißen, zu dem Ende meine Tochter für 8 Reichstaler sich der

Ehe

zu begeben, überreden wollen, und, da ich wider solches Unternehmen protestieret, und meine Tochter ihm die

8 Reichstaler wieder zurückgegeben, er sie mit heftigen Scheltworten und Schlägen übel tractieret, und am Halse verwundet. Demnach nehme zu Ew. Hochfürst!. Durchl, in untertänigster Devotion meine Zuflucht mit demütigster Bitte, Sie wollen meiner Tochter kräftig beistehen und ihr Recht verschaffen. ...

Parkentin, den 27. April. 1725 ... Christian Armerding, Küster zu Parkentin

Der Brief bewirkte nicht, was sich Christian Armerding und seine Tochter erhofft hatten. Herzog Karl Leopold hielt eine Antwort offenbar nicht für nötig. Wie es schien, hatte sich der Jäger mit Lug und Trug herausgewunden.
Am 11. September brachte Marie nach langen Wehen einen gesunden Jungen zur Welt. Noch immer liebte sie den Jäger offenbar abgöttisch, denn als das Kind zwei Tage später getauft wurde, bestand sie darauf, dass es Ludwig heißen solle. Sein zweiter Name wurde Christopher, nach seinem Onkel Jürgen Christoffer, Maries 22-jährigem Bruder, der Pate stand.
Ludwig Burmeister ließ nichts mehr von sich hören. Er wolle heiraten, in 'bessere' Kreise und zu seinem beruflichen Vorteil, wurde gemunkelt. Ob Marie die Gerüchte zu Ohren gekommen waren, blieb unklar. Sie widmete sich ganz ihrem Kind und verkroch sich mit ihrem Kummer ansonsten meist im Haus und im Stall, wo sie die drei Häupter Rindvieh und die fünf Schweine versorgte. Ansonsten schlugen sie sich kümmerlich durch. Vater Christian konnte ja sein Schneiderhandwerk schon lange nicht mehr ausüben. Die Not war heimisch im Küsterhaus, nun erst recht, wo noch ein Esser mehr zu versorgen war.
Den Eltern tat das Herz weh, ihre Jüngste so hoffnungslos dahinleben zu sehen. Sich seines Rechts bewusst, wandte sich Christian 1927 mit geradezu kühnen Worten nochmals an den Landesfürsten, diesmal mit dem Begehr, den Burmeister vor das „hochfiirstliche" Gericht zu zitieren.

... Ew. hochfürstl. Durchl. werden sich gnädigst erinnern, weichermaßen ich dem hochfürstl. Consistorio untertänigst angehänget, daß Ludwig Burmeister, gewesener Jäger bei Generalmajor von Vietinghoff zu Reetz meine Tochter Maria Elisabeth Armerding sub spe matrimonii geschwängert, worauf denn der Burmeister sehr oft citieret, aber nicht erscheinen wollen. Wann ich aber nun gehöret, daß Ludwig Burmeister des Försters zu Selow Tochter zu heiraten vorhabe, so ersuche {ich) Ew. hochfürstl, Durchl. in untertänigster Devotion, um dem Förster Völcker zu Selow zu befehlen, daß er sich in diesem Stück mit ermelde-tem Burmeister nicht abgeben, sondern ihn an das hochfürstliche Consistorium verweise. Ich getröste mich gnädigster Erhörung und verharre.

... Christian Armerding, Küster zu Parkentin Suppl. den 26. Apr. 1727

Es ist ungewiss, ob sein Schreiben diesmal offene Ohren fand. Aber „gewesener Jäger" hatte Christian Armerding den Verführer in seinem Gesuch genannt. Es könnte also sein, dieser hatte zumindest seine Anstellung verloren. Oder war er etwa durch Heirat zum Nachfolger des Försters in Selow aufgestiegen?
***
Im Herbst 1738, als Marie 33 Jahre und ihr Sohn schon ein dreizehnjähriger Lausebengel war, kam nach einer Lehre zum Rade- und Stellmacher ein Handwerker zurück nach Parkentin. Es war der 24-jährige Martin Kortshagen.
In Parkentin war es schon lange üblich, dass sich am Sonntag alle Leute aus dem Dorf, aber auch aus Althof und Hohenfelde, zum Gottesdienst vor oder in der Kirche trafen. Das war schon immer eine günstige Gelegenheit gewesen, eine Braut oder einen Bräutigam zu finden. Für Marie schlug am 1. Adventssonntag diese Stunde. Martin verliebte sich in die hübsche und zierliche Frau.
Am 31. Juli 1739 feierten sie Hochzeit in Parkentin. Hans, der Vater des Bräutigams, ein gewesener
Richter, kam dafür sogar von weither angereist.
„Das schlechte Leben hört auf für sie", versprach Martin seinem Schwiegervater bei der Hochzeitsfeier. Wie es aussieht, hatte er nicht unrecht mit diesem Versprechen. Am 4. Mai 1740 bekamen sie ihr erstes
gemeinsames Kind Anna Catharina. Christian ließ es sich eine Ehre sein, das kleine Mädchen nicht nur zu taufen, sondern auch selbst Pate zu sein. Und wie noch heute die Kirchenakten bekunden, war Jochim Christian, Maries ältester Bruder, damals ein Kater in Parkentin, der zweite Taufpate.
Noch mehr ist bekannt: Maries Tochter Anna Catharina heiratete 1778 auch wieder einen Rademacher, der Rotgarten hieß. Sie gebar ihm einen Sohn, Maries Urenkel, den sie auf die Vornamen Hinrich Ludwig Gottlieb taufen ließ.
Der Küster Christian wäre vermutlich zufrieden gewesen, wie sich alles noch entwickelt hatte. „Es geht nirgends bunter zu als auf der Welt", hätte er vielleicht gesagt. „Alles schön und gut, aber musste der

Kleine ausgerechnet wieder 'Ludwig' heif3en?"

Ob Marie das Ereignis noch edebt hat? Wir konnen es nur hoffen, immerhin war sie zu derZeit schon weit uber Siebzig.

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