[Essay] Feindbild Journalist - Gedanken zu „Die Realität der Massenmedien“ von Niklas Luhmann (Wiesbaden, 1996)

Erstellt von anne_hi vor 6 Jahren
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Angefeuert von der Menschenmenge schlagen sie zu: Ein Pegida-Anhänger tritt einen MDR-Mitarbeiter, ein anderer schlägt einen Reporter der Dresdner Neuen Nachrichten.1 Die Gewalt entlädt sich auf einer der wöchentlichen Demonstrationen der selbsternannten „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Die Medien betrachten sie als ihren Feind; fühlen sich von ihnen missverstanden, manipuliert und fehlinformiert. Die Demonstranten fassen diese kritische Haltung unter dem griffigen Schlagwort „Lügenpresse“ zusammen. Ein Schlagwort, das in ihren Augen anscheinend Gewalt rechtfertigt.Wie gerechtfertigt ist der Vorwurf der „Lügenpresse“? Das Wort unterstellt eine Intention, eine absichtliche Manipulation durch Journalisten. Die wenigsten Deutschen waren bisher in einem Kriegsgebiet, auf der Bundespressekonferenz oder bei der Premierenfeier des neusten James Bond-Films. Journalisten übernehmen das für uns, sie recherchieren und berichten anschließend. In seinem Werk „Die Realität der Massenmedien“ steigt der Soziologe Niklas Luhmann mit einer Beobachtung ein: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ Nach Luhmann prägen Massenmedien also unser Wissen und unsere Wahrnehmung; sie haben viel Einfluss, aber auch viel Verantwortung. Lieferte er mit seinem Werk 1996 also die theoretische Begründung für den heutigen Vorwurf der „Lügenpresse“?Am Beispiel des Fernsehens beschreibt Luhmann „Möglichkeiten des gestaltenden Eingriffs“, wie er es nennt: „Aufnahme mit mehreren Kameras und Montage, Wahl der Perspektive und der Bildausschnitte und natürlich: Auswahl der für Sendung ausgewählten Geschehnisse und Auswahl der Sendezeit.“ Begründet in ihrer Arbeitsweise haben Medien also prinzipiell die Möglichkeit, Informationen zu manipulieren, Themen einseitig oder verfälschend darzustellen oder Fakten wegzulassen. Aber die Tatsache, dass Themen ausgewählt, O-Töne gekürzt oder Videoaufnahmen geschnitten werden, bedeutet nicht automatisch, dass bei diesen notwendigen Vorgängen tatsächlich manipuliert wird. Journalisten müssen selektieren. Es liegt in der Natur ihrer Arbeit, dass sie sich auf das Außergewöhnliche konzentrieren und nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit zeigen.Der Journalist muss bewusst mit dieser Verantwortung umgehen, ausgewogen und objektiv berichten, die veröffentlichten Bilder und Informationen verständlich einordnen. Der mündige Rezipient konsumiert mehr als ein Medium, hinterfragt die Berichterstattung kritisch und ist in der Lage, sich eine eigene Meinung zu bilden. Soweit das Ideal.Die Manipulation, die mit dem Begriff „Lügenpresse“ unterstellt wird, sieht Luhmann als „systeminterne Problematik“. Man müsse damit leben: „Auf Unwahrheitsverdacht könnte das System mit seinen alltäglichen Operationsweisen reagieren, auf Manipulationsverdacht nicht.“ Gerade im digitalen Zeitalter stimmt das nicht mehr. Journalisten wehren sich immer häufiger gegen Manipulationsverdacht. Auf den Vorwurf, Interviews mit Pegida-Demonstranten irreführend zusammengeschnitten zu haben, veröffentlichte der NDR beispielsweise die Interviews in voller Länge auf seiner Website.Überhaupt bietet das Internet gegenüber etablierten Massenmedien neue Möglichkeiten. Blogs oder private Websites können über Nischenthemen berichten und die Gatekeeper-Funktion der Massenmedien umgehen. Das gilt aber nicht nur für gut recherchierte und fundierte Beiträge, sondern auch für Verschwörungstheorien oder Gerüchte. Wenn kein Medium Informationen selektiert, sondern sich der Nutzer selbst zusammensucht, was er lesen möchte, besteht zudem die Gefahr, dass er nur Quellen innerhalb seiner Filterblase wählt, die sein Weltbild bestätigen.Ein ähnliches Vorgehen unterstützt Facebook. Der Algorithmus des sozialen Netzwerks versucht anhand der Beiträge, die ein Nutzer kommentiert, mit „Gefällt mir“ markiert oder teilt, ähnliche Themen zu identifizieren und zeigt diese bevorzugt an. Andere Meinungen werden so nach und nach ausgeblendet. Laut einer Studie sehen 47 Prozent der konservativen US-amerikanischen Nutzer auf Facebook hauptsächlich Beiträge, die ihren politischen Ansichten entsprechen – das sind doppelt so viele wie beim Durchschnitt.2 Die Meinungsvielfalt geht verloren, gerade im konservativen Spektrum.Hier bestätigt sich Luhmanns These besonders deutlich: Die Medien bilden nicht die Wirklichkeit ab, sondern schaffen eine wahrgenommene Wirklichkeit. Ein selbstreferenzieller Kreislauf entsteht: Wer nur Quellen konsumiert, die seinem eigenen Weltbild entsprechen, der wird sein Weltbild immer wieder durch die Medien bestätigt sehen. Andersherum: Wenn Medien etwas publizieren, das nicht dem eigenen Weltbild entspricht, kann der Leser das kritisch hinterfragen oder „Lügenpresse“ rufen. Medienkritik ist für ein funktionierendes System wichtig, aber sie sollte auf Fakten statt auf irrationalen Ängsten basieren.1 Vgl. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/pegida-in-dresden-angriffe-auf-journalisten-a-1055170.html, Stand: 09.01.2018.2 Vgl. http://www.journalism.org/2014/10/21/political-polarization-media-habits/, Stand: 09.01.2018.

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