Memento (eine Sherlock-Holmes-Erzählung)

Ich halte sein Zigarettenetui in meiner Hand. Es ist aus Silber gemacht, und ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag, an dem ich es für ihn gekauft habe. Ich hatte seine Initialen auf der Oberseite eingravieren lassen, dazu meine neue Adresse auf der Innenseite, zusammen mit meinem Versprechen, auch in Zukunft nie weiter als eine kurze Nachricht von ihm entfernt zu sein.

Erstellt von susawa vor 9 Jahren
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Ich hatte es ihm am Vorabend meiner Hochzeit zum Geschenk gemacht, an dem Abend, bevor ich aus der Baker Street auszog, um von da an mit meiner Frau zusammen zu leben. Diesen Tag werde ich immer als besonders glücklich in meiner Erinnerung bewahren. Unabhängig davon tat ich von da an mein Bestes, um mein Versprechen Holmes gegenüber zu halten. Wann immer er mich brauchte, ich war für ihn da. Und um ehrlich mit mir selbst zu sein, ich hätte es gar nicht anders haben wollen. Für mich war es, als hätte ich das Beste aus beiden Daseinsformen miteinander vereint, häusliches Glück mit meiner teuren Mary - und die Freundschaft und Zusammenarbeit mit meinem teuren Holmes...

Und wann auch immer ich das Zigarettenetui in seinen Händen sah, wurde ich an eben diese beneidenswerten Umstände erinnert. An diesem furchtbaren Tag in der Schweiz, als ich nach ihm suchte, immer wieder verzweifelt seinen Namen rufend, war es eben dieses vertraute Silberetui, das mir ins Auge fiel, wie es dort auf dem Felsen lag und Sherlock Holmes’ Abschiedsbrief auf seinem Platz hielt.

Ich hielt mich daran fest, den ganzen Weg zurück nach England, unfähig es für länger als wenige Augenblicke aus der Hand zu legen. Bis heute glaube ich, dass es mich damals davor bewahrt hat, vollends zusammen zu brechen – zumindest bis zu meiner Ankunft in London. Irgendwie überstand ich diese erste Zeit der Trauer. Ich versah seinen letzten Brief an mich mit einem Rahmen und stellte ihn auf den Kaminsims meines Arbeitszimmers, doch das Zigarettenetui behielt ich immer bei mir und trennte mich normalerweise nur nachts von ihm, wenn ich es zusammen mit meiner Taschenuhr auf dem Nachttisch aufbewahrte.

Dann starb auch Mary… ich kann nicht daran denken, ohne sofort wieder diesen schrecklichen Kloß im Hals zu spüren. Dieser gleich zweifache Verlust… zu einem Zeitpunkt glaubte ich wirklich, daran zu zerbrechen. Aber ich machte weiter, immer einen Tag nach dem anderen bewältigend. Vielleicht war es die kostbare Erinnerung an diese beiden Menschen, die mir immer die wichtigsten von allen sein werden – zwei Menschen, mutig und klug, jeder auf seine Weise, bis zum Schluss. Aus diesen Gedanken bezog ich meine Kraft… Ich halte sein Zigarettenetui in meiner Hand. Ich sitze am Schreibtisch meines Sprechzimmers, und meine Finger umschließen die flache Metallschachtel, während mein Verstand noch versucht, das Selbe mit der vollkommen veränderten Realität zu tun. Ein schäbiger Hut liegt zusammen mit einer abgelegten Perücke auf der Tischplatte. Ein Mann, groß, schwarzhaarig und noch blasser und dünner als früher, liegt auf meinem Sofa. Er liegt sehr still und seine Augen sind geschlossen, aber ich kann die leichten Bewegungen seines Brustkorbs sehen, die mir sagen, dass er tatsächlich atmet. Die Haut auf seinem Gesicht und seinen Händen ist warm, so dass ich davon ausgehen kann, dass trotz seiner Blässe doch noch Blut durch seine Adern fließt. Ich habe es noch nicht gewagt, ihn gründlicher zu untersuchen und kann deshalb nicht beschwören, dass sein Herz tatsächlich schlägt – und doch, alle diese Beobachtungen sagen mir das Eine: Sherlock Holmes lebt! Ich gestehe, ich habe mich noch nicht ganz von dem Schock erholt. Nachdem ich wieder zu mir gekommen war und begriffen hatte, dass es keine Halluzination war, die da in meinem Sprechzimmer stand, nach der Woge von kaum auszuhaltender Freude und Aufregung, nachdem ich seiner unglaublichen Geschichte wie auch seinen Entschuldigungen zugehört habe... fühle ich plötzlich ein ganz einzigartiges Gefühl von Frieden.

Natürlich trauere ich nach wie vor um meine Frau. Und es ist wahr, vielleicht sollte ich wütend sein, verletzt angesichts dessen, was ich durchmachen musste, während ich für die Dauer von drei Jahren meinen besten Freund tot glaubte. Aber... nein. In diesem Moment fühle ich einfach nur eine unendliche Erleichterung und grenzenlose Dankbarkeit. Holmes lebt, und er ist wieder da. Für den Moment ist das alles, was ich wissen muss.

Langsam stehe ich auf, das Zigarettenetui noch immer in der Hand. Bis zu dem Platz, wo mein Freund liegt und schläft, ist es nur eine kurze Distanz. Ich möchte ihn nicht stören, aber da gibt es etwas, das ich jetzt einfach tun muss! Wohin soll ich es legen? In seine Hand, die ruhig und entspannt auf der Decke liegt? Es scheint angemessen, allerdings könnte es herunterfallen, wenn er sich im Schlaf bewegen sollte. Vielleicht, überlege ich, sollte ich es einfach in seine Rocktasche stecken, wo er es am ehesten finden wird. Er hat ihn über die Rückenlehne eines der Stühle gehängt, also ist es ein Leichtes... “Suchen Sie etwas, Doktor?” Diese Stimme! Sie klingt ein wenig schläfrig, aber sie ist dennoch ganz unverkennbar. Ich hatte beinahe vergessen, was für einen furchtbar leichten Schlaf Europas (oder vielleicht sogar der Welt) prominentester Verbrechensbekämpfer hat! “Tut mir leid, mein Freund, ich hatte Sie nicht wecken wollen.” Ich setze mich zu ihm auf das Sofa. “Es gibt da nur eine Kleinigkeit, die ich für Sie aufbewahrt habe... es wird Zeit, dass sie wieder zu ihrem einzig wahren Besitzer zurückkehrt.” Und damit lege ich ihm sein Etui in die Hand. Sherlock Holmes ist durch und durch ein Mann des Verstands. Ich habe ihm sogar anfangs jede Fähigkeit zu einer emotionalen Regung abgesprochen, und natürlich war das ein Irrtum... es ist einfach nur so, dass er diese Regungen weniger häufig an die Oberfläche kommen lässt, als wir anderen es gewohnt sind. Jetzt allerdings sieht er mich auf diese ganz merkwürdige Weise an... verblüfft, gerührt... seine Augen zwinkern ein paar Mal, ganz so als müsse er plötzlich aufkommende Feuchtigkeit darin unterdrücken. Und dann lächelt er...

“Willkommen zurück, Holmes...”

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