Darf man die DDR-Mauerschützen bestrafen?

Ein Fluchtversuch aus der damaligen DDR war ein lebensgefährliches Unterfangen. Die Mauer, mit der die DDR ihre Grenze zur Bundesrepublik sicherte, und die es zu überwinden galt, wurde von Grenztruppen bewacht, die meist hemmungslos das Feuer auf Flüchtlinge eröffneten. Mindestens 138 Menschen wurden dadurch bei ihrem Fluchtversuch an der Berliner Mauer getötet.

Erstellt von Ronn vor 7 Jahren
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Der § 27 II des DDR-Grenzgesetzes besagte:

„Die Anwendung der Schußwaffe ist gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt. Sie ist auch gerechtfertigt zur Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens dringend verdächtig sind.“

Wer ohne staatliche Genehmigung das Gebiet der DDR verließ, verstieß gegen § 213 des Strafgesetzbuchs der DDR („ungesetzlicher Grenzübertritt) und beging damit eine Straftat. Somit war die Tötung der Flüchtlinge durch die Grenzsoldaten nach dem § 27 II DDR-GrenzG gerechtfertigt.

Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik dürften die Mauerschützen aus demselben Grund nicht belangt werden, denn das Grundgesetz bestimmt in Art. 103 II, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn zum Zeitpunkt der Begehung der Tat ihre Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war.

Aus Sicht der Soldaten handelten sie demnach bei der Erschießung eines Flüchtlings rechtmäßig.

Fraglich ist, mit welcher Begründung die BRD dennoch einige Mauerschützen verurteilte. Das Landgericht Berlin führte in einem „Mauerschützen-Prozess“ eine Urteilsbegründung an, die im Justizbetrieb nicht alltäglich ist; es stellte die Rechtsgeltung des § 27 II DDR-GrenzG als solche in Frage und kam zu dem Ergebnis, dass diese Vorschrift überhaupt kein gültiges Recht war. Deshalb konnte sie eine Tötung auch nicht rechtfertigen.

Problematisch ist es, einem geltenden Gesetz kurzerhand den Rechtscharakter abzusprechen, ohne vorher zu definieren, was überhaupt Recht ist. Der österreichische Rechtswissenschaftler und Philosoph Hans Kelsen versteht jede Vorschrift als Recht, deren Nichtbeachtung eine Sanktion zur Folge hat. Er sieht Recht als eine „normative Zwangsordnung“. Kelsen ist einer der bedeutendsten Vertreter der sogenannten Rechtspositivisten, die dem Recht keinen inhaltlichen Maßstab zugrunde legen. Nach dem rechtspositivistischen Rechtsbegriff muss eine Norm von einer dazu autorisierten Instanz in einem vorgesehenen Verfahren zustande gekommen und gesetzt worden sein. Dies schafft Rechtssicherheit.

Alle deutschen Gerichte – so auch hier das Landgericht Berlin – haben sich bei der Beurteilung von „Systemunrecht“ (oder staatlichem Unrecht) allerdings eher der Lehre vom moralbezogenen Rechtsbegriff zugewandt. Danach gilt ein Gesetz nur dann als Recht, wenn er einen bestimmten Inhalt aufweist, insbesondere ein moralisches Minimum wahrt. Es kann also nicht jeder Inhalt Recht sein. In seiner Urteilsbegründung führte das Berliner Landgericht aus, „dass es einen Kernbereich des Rechts gibt, den nach dem Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit kein Gesetz und kein obrigkeitlicher Akt antasten darf.“

Maßgebend für die Begründung dieser Auffassung ist auch die sogenannte „Radbruchsche Formel“ des Rechtsphilosophen Gustav Radbruch, auf die auch das Bundesverfassungsgericht in einschlägigen Entscheidungen Bezug nimmt. Radbruch erkennt den Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit und verlangt, dass das positive Recht zurücktreten muss, wenn es in einem unerträglichen Widerspruch zur Gerechtigkeit steht. Es weicht dieser dann als „unrichtiges Recht“. Vor allem spricht er dem positiven Recht ihre Rechtsnatur gänzlich ab, wenn durch die Setzung dieser Norm Gerechtigkeit gar nicht erst erstrebt wurde. „Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“

Radbruch behauptete, dass die vom Rechtspositivismus stammende Überzeugung „Gesetz ist Gesetz“ die deutschen Juristen gegen Gesetze verbrecherischen Inhalts „wehrlos“ gemacht hat; da nach diesem damals vorherrschenden Rechtsverständnis jede korrekt zustande gekommene Vorschrift ausnahmslos befolgungswürdig ist, wurde jedes noch so unmenschliche Gesetz unter blindem Gehorsam angewandt. Der zur Zeit der Weimarer Republik verbreitete Rechtspositivismus hat laut Radbruch das NS Unrecht gefördert.

Als eine der Lehren aus dem Nationalsozialismus legt die bundesdeutsche Justiz ihrer Rechtsprechung somit den moralbezogenen Rechtsbegriff zugrunde. Jedoch gilt der in Art 103 II GG normierte Vertrauensschutz seinem Wortlaut nach uneingeschränkt. Die Verlässlichkeit in die Rechtsordnung ist von fundamentaler rechtsstaatlicher Bedeutung, vor allem im Strafrecht, da der Staat hier besonders intensiv in Grundrechte eingreifen kann. Die hierdurch geschaffene Rechtssicherheit ist Ausprägung des staatlichen Willkürverbots. Eine Einschränkung dieser umfassenden Garantie des Schutzes vor willkürlicher Strafverfolgung, Verurteilung und Bestrafung kann nur unter besonders schwerwiegenden Umständen erlaubt sein. Das Völkerrecht schränkt diesen Schutz dann ein, wenn es um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht (Art 7 II EMRK, sog. „Nürnberg-Klausel“).

Es muss eine schwerwiegende Verletzung der allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen vorliegen. Eine solche Verletzung nehmen auch der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf den § 27 II DDR-GrenzG an. Die Vorschrift deckte die vorsätzliche Tötung von unbewaffneten Personen, die ohne Gefährdung allgemein anerkannter Rechtsgüter ausschließlich die innerdeutsche Grenze überschreiten wollten. Ein solches Gesetz, das der Durchsetzung des Verbots, die Grenze zu überqueren, Vorrang vor dem Lebensrecht eines Menschen einräumt, ist wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und völkerrechtlich geschützten Menschenrechten als unwirksam anzusehen.

Es reicht allerdings für eine Verurteilung der Mauerschützen nicht allein aus, den Rechtscharakter des Rechtfertigungsgrundes zu verneinen. Teil des in Art 103 II GG für die staatliche Strafgewalt konkretisierten Rechtsstaatsprinzips ist auch, dass Strafe Schuld voraussetzt. Die grundgesetzlich absolut geschützte Menschenwürde erschöpft sich in diesem Bereich gerade darin, dass der Täter als selbstbestimmte Persönlichkeit anerkannt wird, und seine Strafe sich aus einem gerechten Verhältnis zu seinem individuellen Verschulden und der Schwere seiner Straftat ableitet. Mit Schuld wird im Strafrecht die individuelle Vorwerfbarkeit des Handelns verstanden. Der Täter hat sich für Unrecht entschieden, obwohl er sich für das Recht hätte entscheiden können.

In vielen Fällen haben es die Gerichte als erwiesen angesehen, dass sich die Soldaten bei Abgabe der Schüsse der Tatsache bewusst waren, dass Flüchtlinge tödlich verletzt werden können. Dies haben sie auch billigend in Kauf genommen. Zu beachten ist, dass die Täter aus einer anderen, nicht mehr bestehenden Rechts- und Gesellschaftsordnung kommen und von ihr geprägt sind. Dass sie in der überwiegenden Anzahl der Fälle lediglich einem Befehl folgend gehandelt haben kann ihre Schuld nicht ausschließen, wenn die Rechtswidrigkeit dieses Befehls derart offensichtlich war, dass sie für jeden Soldaten ohne weiteres erkennbar gewesen ist. Es ist allerdings nicht selbstverständlich, dass jeder DDR-Grenzsoldat einen zweifellosen Strafrechtsverstoß annimmt.

Ins Gewicht fällt bei den „Mauerschützen-Fällen“, dass die Staatsführung der DDR den § 27 II DDR-GrenzG durch einen expliziten Schießbefehl mit staatlicher Autorität untermauert und gedeckt hat. Denn die Sanktionen, die den Soldaten durch ein Nichtbefolgen dieses Befehls drohten, vermittelten ihnen zusätzlich die „Richtigkeit“ ihres Handelns.

Auch die – oftmals seit der Kindheit vorgenommene – an den Staatszielen der DDR orientierte sozialistische Erziehung und Indoktrination der Soldaten könnte sie daran gehindert haben eine offensichtliche Rechtswidrigkeit ihrer erhaltenen Befehle zu erkennen.

Doch jeder Mensch besitzt ein angeborenes Gerechtigkeitsgefühl, das ihn schwerwiegende Ungerechtigkeiten erkennen lässt. Dieses Empfinden kann ihm auch nicht durch die Art der Sozialisierung „ausgetrieben“ werden. Außerdem soll durch die absolute Ablehnung der zweckhaften Instrumentalisierung eines Menschens durch den Staat jeder Soldat – und sei er ein noch so kleines „Rädchen im Getriebe“ – für sein persönliches Handeln verantwortlich gemacht werden. Die ihm drohenden Strafen für ein Nichtbefolgen einer Anweisung zur Begehung von Unrecht dürfen bei dieser Beurteilung nicht beachtet werden. Ob jeder Mensch ein „Held“ sein kann oder nicht, kann dahinstehen, denn gerade in einem Unrechtsstaat darf das „richtige“ Recht dem geltenden „unrichtigen“ Recht nicht weichen.

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