Innerstaatliche Restriktionen und außenpolitische Entscheidungen

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1. Einleitung

Zur Eindämmung der negativen Auswirkungen der Staatsschuldenkrise beschlossen die 17 Eurostaaten im März 2011 einen dauerhaften Stabilitätsmechanismus einzurichten, der die befristeten Rettungsschirme – den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) und die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) – ablösen sollte (Europäischer Rat 2011a). Mit einem Gesamtvolumen von 700 Mrd. Euro soll der Europäische Stabilisierungsmechanismus (ESM) finanziell in Schwierigkeit geratenen Mitgliedsstaaten des Euro-Währungsgebiets Abhilfe verschaffen. Deutschland und Frankreich sind zusammen mit beinahe 50 Prozent die größten Anteilseigner. Trotz des relativ gleich verteilten finanziellen Risikos konnten sich beide Staaten nur ungleich in den Verhandlungen zum ESM durchsetzen.

Erstellt von passlaca vor 9 Jahren
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Die vorliegende Arbeit hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, die deutschen und französischen Verhandlungspositionen und ihre Durchsetzungsfähigkeit zu analysieren. Es wird der Frage nachgegangen, wie sich der Erfolg bzw. Misserfolg der jeweiligen Verhandlungspositionen erklären lässt. Zwar konnte Frankreich Deutschland von der Notwendigkeit eines permanenten Stabilitätsmechanismus überzeugen, jedoch herrschten hinsichtlich der genauen Ausgestaltung große Differenzen (vgl. Reiermann/Sauga/ Schult 2011). Welche Verhandlungspositionen sich im Endeffekt erfolgreicher durchsetzen ist – so die These der Arbeit – von den formellen und informellen Handlungsrestriktionen auf innerstaatlicher Ebene abhängig. Das so genannte innerstaatliche win-set dient in diesem Zusammenhang als erklärende Variable. Dass sich die deutschen Positionen erfolgreicher durchsetzen konnten, ist durch ein kleines innerstaatliches win-set zu erklären. Das größere französische win-set ging hingegen mit Zugeständnissen auf europäischer Ebene einher.

Um den Nexus zwischen Innen- und Außenpolitik zu beleuchten, soll im zweiten Kapitel – dem theoretischen Abschnitt der Arbeit – auf den Zwei-Ebenen-Ansatz von Robert Putnam und seiner Erweiterung durch den Prinzipal-Agenten-Ansatz (PA-Ansatz) eingegangen werden. Das dritte Kapitel befasst sich mit der Operationalisierung. Der Fokus des Hauptteils wird sowohl auf die Verhandlungsergebnisse des ESM als auch auf die Verhandlungspositionen beider Länder gelegt, um danach anhand einer vergleichenden Fallanalyse die Determinanten der innerstaatlichen win-sets zu analysieren. Den Abschluss bildet eine Zusammenfassung der Ergebnisse.

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3. Operationalisierung

3.1 Methodisches Vorgehen und Fallauswahl

Die vorliegende Arbeit versucht anhand einer vergleichenden Fallanalyse den Erfolg bzw. Misserfolg deutscher und französischer Verhandlungspositionen in den europäischen Verhandlungen zum ESM zu erklären. Der Erfolg der Verhandlungspositionen stellt somit die abhängige, das innerstaatliche win-set die unabhängige Variable dar. Der Untersuchungszeitraum beginnt am 28. Oktober 2010 mit der Einigung des Europäischen Rates, einen permanenten Stabilitätsmechanismus einrichten zu müssen und endet am 02. Februar 2012, dem Tag der Unterzeichnung durch die Mitgliedstaaten. Die aus dem theoretischen Hintergrund hergeleitete Arbeitshypothese lautet:

Je kleiner das innerstaatliche win-set einer Regierung, desto wahrscheinlicher sind die Erfolgschancen ihrer Verhandlungspositionen.

Eine qualitativ vergleichende Fallanalyse hat den Vorteil, kausale Zusammenhänge von unabhängigen mit abhängigen Variablen gezielt analysieren zu können. Einer der großen Nachteile einer kleinen Fallauswahl ist jedoch die geringe Repräsentativität und minimale externe Validität, die mit dieser Form der Forschungsmethode einhergeht. Die Ergebnisse der Untersuchung lassen sich dementsprechend nur sehr eingeschränkt– wenn überhaupt – verallgemeinern.

Der Fallauswahl[1] kommt in der vergleichenden Methodik eine besondere Bedeutung zu, da sie im Wesentlichen die Kontrollfunktion übernimmt, die in der statistischen Analyse durch Korrelation und im experimentellen Design durch die bewusste Manipulation der unabhängigen Variable erfolgt. Da die bewusste Fallauswahl immer mit einer geringen externen Validität einhergeht, muss versucht werden, die Fälle so auszuwählen, dass zumindest die interne Validität gewahrt bleibt. Der Vergleich zwischen deutschen und französischen Verhandlungspositionen folgt dabei am ehesten dem „most similiar case design“ (vgl. Ebbinghaus 2009: 493). Dem Einfluss möglicher Drittvariablen auf den Erfolg bzw. Misserfolg der Positionen wird auf diese Weise versucht entgegenzuwirken. Eben weil es sich bei beiden Fällen um die wirtschaftlich stärksten Länder der Eurozone handelt, werden Alternativerklärungen wie Machtasymmetrien, die eventuell mit politischen Einfluss und Verhandlungsmacht korrelieren, weitestgehend ausgeschlossen. Zudem handelt es sich um einen Vergleich zwischen zwei konservativ geführten Regierungen, die im Rat der Europäischen Union über jeweils 29 von 345 zu vergebenen Stimmen verfügen. Die einzige Einschränkung der internen Validität ergibt sich durch einige Unterschiede zwischen beiden Regierungssystemen: Beide können zwar der Oberkategorie des parlamentarischen Systems zugeordnet werden, jedoch gilt Deutschland als rein parlamentarisches und Frankreich – aufgrund der herausragenden Stellung des Präsidenten – als semi-präsidentielles System (Decker 2009: 197). Da das französische Staatsoberhaupt in etwaigen Phasen der Cohabitation[2] ebenso auf die enge Zusammenarbeit mit der Parlamentsmehrheit angewiesen ist, wird der von Oppermann entwickelte theoretische Rahmen unverändert auch auf Frankreich übertragen.

3.2 Definition und Messung der Variablen

Vor dem Hintergrund der Fragestellung nach der konkreten Ausgestaltung des ESM, werden die Positionen der Regierungen als Präferenzen, die sich auf politische Handlungsinstrumente beziehen[3] (preferences over actions or policies) definiert (Powell 1994: 318). Die Messung von Erfolg bzw. Misserfolg der jeweiligen Positionen soll durch einen Vergleich der Verhandlungsergebnisse mit den hergeleiteten oder geäußerten Präferenzen der beiden Regierungen erfolgen. Die Schwerpunktsetzung der Betrachtung liegt auf folgenden Verhandlungsbereichen: der gesetzlichen Grundlage, der Haftungsobergrenze, den Kreditvergabemodalitäten, der Beteiligung von Privatgläubigern und der Ausstattung mit einer Banklizenz. Die Verhandlungspositionen gelten als

- Erfolgreich, wenn alle Positionen durchgesetzt wurden

- Relativ erfolgreich, wenn die Mehrheit der Positionen durchgesetzt, bei einer Minderheit jedoch Zugeständnisse gemacht wurden

- Weniger erfolgreich, wenn die Mehrheit der Positionen nicht durchgesetzt werden konnten

- Erfolglos, wenn alle Positionen nicht durchgesetzt werden konnten.

Die formalen und informellen Handlungsrestriktionen stellen definitorisch das innerstaatliche win-set einer Regierung dar. Die zentrale formale Handlungsrestriktion wird anhand der institutionellen Regeln, nach denen die außenpolitische Entscheidung beider Länder ratifiziert werden musste, gemessen.

Im Anschluss soll die Salienz des ESM analysiert werden. Aufgrund des eingeschränkten Umfangs der Arbeit, werden an dieser Stelle nur zwei der drei Auslöser des Feueralarms untersucht: die Medienberichterstattung und der Elitendissens. Der Einfluss von Interessengruppen auf die Salienz außenpolitischer Themen für die beiden Prinzipale wird an dieser Stelle ausgeklammert. Um die Intensität der Berichterstattung zu messen, wird auf die Methodik der quantitativen Medieninhaltsanalyse zurückgegriffen. In Bezug auf den Elitendissens soll untersucht werden, ob während des Untersuchungszeitraums Konflikte zwischen der Regierung und der Opposition und/oder innerhalb des Regierungslagers auftraten. Ein Konflikt zwischen Opposition und Regierung besteht, wenn die Opposition eine andere Position vertritt als letztere und das außenpolitische Thema zum Gegenstand zwischenparteilicher Auseinandersetzung avanciert. Der Konflikt innerhalb des Regierungslagers soll anhand der absoluten Anzahl der Abweichler gemessen werden.

Die dritte Determinante des innerstaatlichen win-sets, also die Glaubwürdigkeit der Sanktionsdrohungen durch die Prinzipale, hängt nach Oppermann sowohl von der Größe der parlamentarischen Rebellion und dem Status der an ihr beteiligten Akteure als auch vom zeitlichen „Abstand zu Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen“ ab (2008: 129). Die Glaubwürdigkeit der Sanktionsdrohung durch

- die Wahlbevölkerung ist hoch, wenn das außenpolitische Thema am Wahltag selbst salient ist und eine tatsächliche außenpolitische Wahlalternative besteht

- die Regierungsfraktion/en ist hoch, wenn die Anzahl potentieller Abweichler die Stimmenmehrheit der Regierungsfraktion/en im Parlament übersteigt und es sich bei den Akteuren um führende Repräsentanten der Regierungsfraktion und/oder Regierungsmitgliedern handelt (ebd.: 129). Insofern erfolgt die Operationalisierung der informellen Handlungsrestriktionen über die Konzepte der Salienz und der Glaubwürdigkeit von Sanktionsdrohungen.

[1] Die methodischen Überlegungen zur komparativen Methodik wurden in diesem Kontext nachhaltig von John Stuart Mill (1872) beeinflusst. Er unterscheidet zwischen der Differenz- und Konkordanzmethode. Im Falle der Differenzmethode werden sehr ähnliche Untersuchungseinheiten ausgewählt, bei denen aber die abhängige Variable variiert. Die Konkordanzmethode beruht dagegen auf der Ähnlichkeit der abhängigen Variablen bei gleichzeitiger Varianz der untersuchten Fälle.

[2] Der Begriff wurde 1983 erstmals von Édouard Balladur verwendet und bezeichnet eine politische Konstellation, in der der Präsident aufgrund einer fehlenden Mehrheit im Parlament darauf angewiesen ist, mit dem Regierungschef des entgegengesetzten politischen Lagers zusammenzuarbeiten (Poser 2005: 1).

[3] Sowohl langfristige Präferenzen, die die grundlegenden Ziele der Akteure widerspiegeln (preferences over outcome), als auch Verhandlungsstrategien bleiben in der vorliegenden Arbeit unberücksichtigt.

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5.2 Salienz

5.2.1 Elitendissens

Der ESM war in Frankreich kein Gegenstand eines offenen Dissenses innerhalb des Regierungslagers (Kirch/ Schwarzer 2012: 19). In Bezug auf einen Elitendissens zwischen Regierung und Opposition kann allenfalls von einer sehr schwachen Aktivierung des Feueralarms, der zur erhöhten Salienz eines außenpolitischen Themas für beide Prinzipale beiträgt, gesprochen werden. Bis Ende 2011 herrschte zwischen dem konservativen Regierungsfraktion und der sozialistischen Opposition ein weitgehender Konsens über die Einführung eines permanenten Krisenmechanismus (ebd.: 19). Erst nach den Beschlüssen des Dezember-Gipfels kritisierte die Parti Socialiste (PS), vor allem aber die Parti de Gauche (PG) unter ihrem Vorsitzenden Jean-Luc Mélenchon (PG) die Verknüpfung des ESM mit dem Fiskalpakt (Bekhtaoui 2011; Le Blog de Jean-Luc Mélenchon 2011).

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