Lockere Angespanntheit - Einblicke in die Arbeit eines Schauspielers

Lockere Angespanntheit

Einblicke in die Arbeit eines Schauspielers

Reportage von Katharina Eusterbrock

„Rabenklang, Rabenklang, Rabenklang, Frühstück, Frühstück, Frühstück, Kiwi, Kiwi, Kiwi.“ Dies ist kein Dada-Gedicht, nein – ich wohne einer Orchesterprobe des Aachener Schauspiel-Ensembles bei, anlässlich der Wiederaufnahme der Dreigroschenoper. Die Schauspieler beenden das Einsingen gerade mit einem lauten „ha, ha, ha, – ha.“

Erstellt von zazie vor 8 Jahren
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Nicht etwa, weil sie so heiter gestimmt wären, sondern – so erklärt mir Heribert Leuchter, der musikalische Leiter dieser Inszenierung später, weil diese Übungen für das Warming-up der Stimme wichtig sind. Sonst könnte es leicht zu einer Überanstrengung kommen, weil die berühmten Songs von Kurt Weill einen zum Teil harten, rüden und herausfordernden Vortragsstil verlangen, der äußerst strapaziös ist, vor allem für Schauspieler, die gesanglich nicht geschult sind. Wir befinden uns im Dachgeschoss der Elisabethhalle, dem alten Aachener Jugendstilschwimmbad. Der Raum ist in grelles Neonlicht getaucht, ein Geruch von verstaubter Turnhalle liegt in der Luft. Das Mobiliar besteht aus einigen Metallspinden und einer in die Jahre gekommenen Bestuhlung, die ich auf die frühen 1980er Jahre datiere. Auf dem blassgrünen PVC-befliesten Boden steht ein Konzertflügel. Es ist 10.00 Uhr morgens, es sind noch zwei Tage bis zur Aufführung, die Stimmung ist leicht angespannt. Die anwesenden Darsteller wirken übermüdet. Eigentlich kein Wunder, schließlich ist der Schauspieler-Alltag kein Zuckerschlecken: täglich Proben von 10.00 Uhr bis 14.00 Uhr, dann in einem zweiten Block von 18.00 Uhr bis 22.00 Uhr entweder wieder Proben oder Aufführungen. Am Wochenende ebenfalls Aufführungen. Außerdem müssen – meist in der Freizeit – noch Texte gelernt werden. Die Mitglieder des Aachener Schauspiel-Ensembles sind im Schnitt in vier verschiedene Produktionen gleichzeitig involviert.

„Wie ist das überhaupt zu schaffen, alle Texte zu behalten und dabei nichts durcheinander zu bringen?“, frage ich Joey Zimmermann, einen kahl rasierten, leicht anämisch wirkenden jungen Mann in Nadelstreifenhose und zinnoberrotem Pulli, der den Hakenfinger-Jakob darstellt und entgegen seiner Rolle überraschend freundlich reagiert. „Das Gedächtnis funktioniert nicht nur über den Kopf“, sagt er, „sondern auch über den Körper. Sobald man in einer Figur drin ist, stellt sich auch der Text automatisch ein. Oft helfen auch die Kostümierung, die Maske und die Requisiten, den textlichen Einstieg zu finden. Für mich sind besonders die Schuhe wichtig.“ „Warum die Schuhe?“ frage ich. „Weil sich die Körperhaltung sofort verändert, wenn Du nicht in Deinen privaten, sondern in Kostümschuhen probst. Die Schuhe helfen Dir, den richtigen Gang zu finden. Wenn Dir das nicht gelingt, kannst Du die Figur auch nicht glaubwürdig darstellen.“ Klingt einleuchtend. Gerne würde ich ihn noch mehr fragen zur Schauspielerei und was dran ist an diesem Beruf – für viele der Traumberuf schlechthin. Er verspricht mir, nach der Probe noch einen Kaffee mit mir zu trinken.

Langsam füllt sich der Raum. Als letztes wuchtet der Kontrabassist unter Flüchen sein Instrument in die Halle. Es kann losgehen. Unvermittelt wird es laut. Der eben noch leicht abwesend wirkende junge Pianist schmettert mit beeindruckender Präzision den stählernen Marschrhythmus des dritten Dreigroschenfinales in die Tasten. Gleichzeitig erhebt sich der martialische Chorgesang der Schauspieler. Während sie verkünden: „Des Königs reitender Bote kommt“, scheint der Raum mit dem Turnhallen-Flair eine Metamorphose durchzumachen: Unspektakulär, wie er ist, entwickelt er sich angesichts dieses imposanten Geräuschereignisses zu einer grotesk anmutenden Kulisse. Anders als ich es von regulären Theaterbesuchen kenne, fühle ich mich an diesem Ort mitten in das Geschehen hineingeworfen. Vielleicht deshalb, weil meine Rolle als Zuschauer hier eine andere ist. Jawohl, auch als Zuschauer innerhalb der Institution Theater spiele ich eine Rolle, gehe unausgesprochene Vereinbarungen mit den Schauspielern ein, von denen vielleicht die wichtigste ist, dass die Aufführung, der ich beiwohne, fiktionalen Charakter hat. Diese Übereinkunft ist grundlegend, sonst könnte ich mich womöglich – je nach Handlung – wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar machen. Nein, alles ist Fiktion, und diesen Umstand vergesse ich normalerweise nie, wenn ich mich in den Räumen eines Theaters aufhalte. Allein schon deshalb nicht, weil ich mich in sicherem Abstand zur Bühne befinde, die wie durch einen Rahmen von einem Vorhang abgegrenzt wird. Auch die Platzanweiserin, die mir beim Auffinden der richtigen Sitzreihe behilflich ist, gibt mir Sicherheit. Ebenso das Verhalten meiner Sitznachbarn, die sich ja auch dann ruhig verhalten, wenn es auf der Bühne zu Mord und Totschlag kommt. Alle halten sich an ihre Absprachen und spielen ihre Rolle. Heute allerdings ist es anders: Ich bin allein unter Schauspielern und nur durch einen Treppenabsatz vom Geschehen getrennt. Außerdem sehen die Darsteller – egal ob Spelunkenjenny oder Bettlerkönig – in ihrem Alltags-Outfit so aus, dass man sich weder im Supermarkt noch im Büro nach ihnen umdrehen würde. Mit all diesen veränderten Rahmenbedingungen habe ich keine Erfahrung.

„Stopp! Ihr seid nicht synchron! So fällt alles auseinander! Noch einmal ab: ‚Horch, wer kommt!’ Und das ,Horch’ muss viel kompakter kommen.“ Jäh bringt mich diese Zäsur des Orchesterleiters auf den Boden der Tatsachen zurück, den ich gerade für einen Moment verlassen hatte. Etwas unzusammenhängend fallen mir einige Fetzen aus der neueren Medientheorie wieder ein. Wie war das noch? Je besser ein Medium funktioniert, desto mehr gerät es aus dem Fokus der Aufmerksamkeit. Erst im Falle einer Störung verliert es diese Unsichtbarkeit wieder, wogegen nun aber das zu Vermittelnde immer schlechter wahrgenommen wird. Beispiel Fernsehen: Ich gehöre zu den Leuten, die kaum einen Krimi aushalten, ohne nicht wenigstens einmal den Raum zu verlassen zu haben – aus Angst vor dem Mörder, der sich von hinten seinem Opfer nähert. In diesen Momenten vergesse ich regelmäßig, dass die Handlung spätestens durch das Betätigen der Fernbedienung hinfällig wird. Eine Bild- oder Tonstörung dagegen bringt mir sofort in Erinnerung, dass das Ganze ein Film ist und weder ich noch die Person des Opfers sich in unmittelbarer Lebensgefahr befinden. Auch der soeben erfolgte Eingriff des Orchesterleiters war – wenn man so will – ein Eigenrauschen des Mediums „Theater“. Davon gibt es jetzt noch mehr zu hören: Die Stimmung wird zunehmend gereizter, weil zwei Darsteller, die durch eine kurzfristige Neubesetzung der Rollen erst jetzt dazu gekommen sind, offenbar ein Problem mit dem Timing haben. Heribert Leuchter beklagt sich offen über diese mehr als fahrlässige Produktion, den enormen Zeitdruck und darüber, dass die zwei angesetzten Probetermine längst nicht ausreichen für eine solide Wiederaufnahme des Stückes. Abrupt bricht er eine Diskussion zwischen den Musikern ab, wer denn nun auf wen mit dem Einstieg warten soll und ob ein Ritardando an dieser Stelle des Stückes nicht ausdrucksstärker sei. Seine pragmatische Entscheidung lautet: „Es gibt kein Ritardando. Wir müssen das Ding zusammen hinkriegen, und zwar übermorgen. Für Details ist keine Zeit.“ „Schön ist das jetzt aber nicht mehr“, beschwert sich der Schlagzeuger. „Stimmt“, entgegnet Leuchter, „aber es ist eine handwerklich korrekte Lösung.“

„Ist das ein typischer Konflikt?“ frage ich Joey später im Elisenbrunnen-Café. „Absolut,“ sagt er. „Die meisten Produktionen entstehen unter Zeitdruck. Diese Probe war außerdem schlecht organisiert. Es gab im Vorfeld nur ein kurzes Durchsingen am Klavier mit einem anderen Pianisten, dem Korrepetitor. Das ist jemand, der Sänger, Chöre oder Schauspieler begleitet, wenn sie ihre Rollen einstudieren. Weil eine komplette Orchesterprobe viel zu aufwändig und teuer ist, wird die ganze Partitur bis zur Endphase vom Korrepetitor allein übernommen. Ich war zu dieser Probe dummerweise nicht eingeladen, was ein Fehler war, weil ich so ziemlich der einzige war, der noch wusste, wie wir das Stück im letzten Jahr gesungen haben. Heribert konnte auch nicht kommen und so haben sich erst heute alle vollzählig getroffen. Wenn dann zu einem so späten Zeitpunkt gravierende Dinge nicht klappen, schafft das natürlich Unwohlsein und Nervosität. Das meiste muss man sowieso zuhause machen. Jeder ist selbst dafür verantwortlich, bei der Probe mindestens auf dem gleichen Level zu sein wie die anderen. Wenn man nicht gut vorbereitet ist, ist das in diesem Job kein reines Privat-Problem, sondern man hindert damit gleichzeitig die anderen daran, gut zu arbeiten.“

Die wichtigsten Eigenschaften eines Schauspielers – so wird mir langsam klar – sind offenbar weder das Bedürfnis nach Selbstdarstellung noch Star-Allüren, sondern vielmehr Verlässlichkeit, Teamgeist und Stressresistenz. Auch müssen die meisten Schauspieler – so erfahre ich weiter – nicht nur mit wenig Freizeit, sondern auch mit sehr wenig Geld auskommen. Häufig sind sie gezwungen, sich mit Zweit- und Drittjobs über Wasser zu halten. Deshalb möchte ich von Joey, der gerade freudig sein französisches Frühstück in Empfang genommen hat, wissen, was ihm an der ganzen Sache eigentlich Spaß macht. „Mir persönlich macht es in dem Moment Spaß, wenn der Text sitzt. Das entspannt mich. Dann kann ich anfangen, mit dem Text zu spielen“, sagt er. „Solange ich den Text noch nicht richtig kann, bin ich immer ein bisschen ausgebremst. Andererseits darf man sich auch nicht sklavisch an den Text halten, denn dadurch ist man total abhängig. Wenn dann bei der Aufführung irgendwas passiert, sei es, man ist nervös oder man hat einen so weiten Horizont, dass einen schon ein Husten aus dem Publikum irritiert, kann das mitunter fatal sein. Deshalb ist es wichtig, gleichzeitig locker zu sein, in einer lockeren Angespanntheit sozusagen.“ „Wie viel Textgenauigkeit wird denn normalerweise erwartet?“ möchte ich wissen. „Das hängt vom Stück ab,“ erklärt mir Joey. „In den experimentelleren Formen von Theater gibt es oft gar keinen Text, sondern nur eine Idee, ein offenes, sehr frei interpretierbares Material als Arbeitsgrundlage. Der Rest entsteht beim Spielen. Dann gibt es Stücke, bei denen man sich äußerst präzise an den Text halten muss. Wenn Du zum Beispiel Kleist sprichst oder etwa Chortexte wie die Orestie, oder wenn Du Heiner Müller sprichst, muss jedes Wort sitzen. Dann musst Du den Kopf ausschalten. Über den Inhalt darfst Du dann nicht mehr nachdenken, der transportiert sich dann über Dich als Medium, ohne dass Du als Individuum gefragt wärest.“ „Aber fühlt sich das nicht unangenehm an, wenn man nur eine Art Werkzeug, ein Instrument ist?“ frage ich besorgt. „Es ist toll,“ sagt Joey. Wenn man dem Regisseur und dem Stück trauen kann, dann ist es absolut toll, dann gibt man sich dem hin.“

Ich sehe, dass ich wohl gründlich mit einigen Klischees aufräumen muss, die sich in meinem Kopf um den Mythos des Schauspielers ranken. Etwas kleinlaut frage ich Joey, ob es nicht doch eine Art typischer Schauspieler-Persönlichkeit gibt. Man sagt doch, Schauspieler seinen meistens exzentrische Charaktere. Auch gibt es die Theorie, Schauspieler hätten eine sogenannte dynamische Persönlichkeitsstruktur. Sie hätten Schwierigkeiten, einen festen Standpunkt einzunehmen, da sie in gewisser Weise nicht zu Ende sozialisiert seien. Daher – so wird vermutet – die Leichtigkeit, mit der sie in andere Rollen schlüpfen können. Andererseits heißt es, sie seien eher übersozialisierte Persönlichkeiten mit einem derart hohen Maß an Selbstbeherrschung, dass sie fast beliebig über ihre Emotionen und Äußerungen verfügen könnten. „Ich würde das runterkochen,“ sagt Joey lächelnd. „Man muss das von einer anderen Seite her aufrollen, und zwar sehr pragmatisch und trocken. Schauspielerei ist ein Handwerk. Es hat eigentlich gar nichts mit dem Menschen dahinter zu tun. Zumindest nicht mehr als bei jemandem, der an einer Werkbank hockt oder einen Text schreiben muss.“ „Aber irgendwie muss die Schauspielerei doch auch etwas mit Begabung zu tun haben“, wende ich ein. „Schon,“ gibt er zu, „man braucht gewisse Anlagen, um dieses Handwerk gut ausführen zu können. Aber das ist auf anderen Gebieten ja genauso.“

Ich denke nach. Warum, frage ich mich, bin ich eigentlich nie auf die Idee gekommen, Schauspielerin zu werden? Wahrscheinlich habe ich es nie für erstrebenswert gehalten, auf einer Bühne zu stehen und von vielen Menschen beobachtet zu werden, da ich dies für einen äußerst bedrohlichen Zustand halte. Meine persönliche Schreckensvision: Als Reaktion auf einen dramatischen Gefühlsausbruch ausgelacht zu werden oder anstelle von Beifall das betretene Schweigen des Publikums ertragen zu müssen. Ich frage Joey, ob ein Schauspieler gegen solche Gefahren immun ist. „Ich kenne keinen Schauspieler, der sich nicht auch schämt“, sagt er. „Ich schäme mich meistens dann, wenn mir eine Produktion überhaupt nicht gefällt oder wenn ich etwas machen muss, nur weil der Regisseur es sagt und ich gerade nicht die Kraft habe, mich dagegen zu wehren, weil ich meinen Job nicht verlieren will. Das ist dann natürlich ungeheuer peinlich. Und ungerecht ist es auch, denn das Fett kriegst immer Du als Schauspieler ab, weil Du auf der Bühne stehst. Auch dann, wenn es an der Regie liegt und die Inszenierung einfach schlecht ist. Andererseits – und darin liegt vielleicht eine notwendige professionelle Distanz – ein Schauspieler zeigt viel weniger von sich als es vielleicht den Anschein hat. Er kann Dich – wenn er gut genug ist – zu Tränen rühren, ohne dabei irgendetwas von sich preiszugeben. Darin liegt natürlich ein gewisser Schutz.“

Zum Schluss stelle ich noch die obligate – zugegeben wenig originelle – Frage, wie er denn zur Schauspielerei gekommen sei. Auch diesmal ist die Antwort überraschend: „Weil sonst nichts geklappt hat“, meint Joey lakonisch. „Schauspieler sein war nie mein Traumberuf, aber inzwischen habe ich ihn zu schätzen gelernt. „Warum?“ frage ich. „Man spielt im echten Leben schon genug Rollen, da haben die Soziologen ganz recht. Deshalb ist es für mich wichtig, auf der Bühne keine Rolle zu spielen.“ „Verkehrte Welt,“ denke ich und frage: „Du bist also Schauspieler geworden, um Dir einen Raum zu schaffen, wo Du keine Rollen spielen musst? Aber das ist doch ein klein wenig paradox, oder?“ „Gar nicht,“ behauptet Joey. „Auf der Bühne kann ich authentisch sein, durchlässig und verschieden. Und ich habe das Glück, mich mit guten und intelligenten Stücken auseinandersetzen zu können. Das bringt mir sehr viel für mein Leben, davon bin ich überzeugt.“

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